Kapitel 100: Drache - Teil 6

70 13 4
                                    

Ein Jahr später in der verlassenen Höhle der Ubren.

Mehn Wudu wunderte sich, als Jin Gajin und Bur Nashin viel früher zurückkehrten als er angenommen hatte. Der ehemalige Diener der Mehn-Gilde hielt den sommersprossigen Jungen an der Hand und spielte vielsagend mit einem der Dolche an seinem Gürtel herum, während er berichtete.

»Bei den Ruinen geht ein Mann umher«, sagte Jin Gajin. »Ich konnte nicht sehen, wer es war. Als Bur Nashin ihn entdeckt hat, sind wir sofort abgehauen.«

In dem einen Jahr seit dem Verrat an der Mehn-Gilde hatte Mehn Wudu vieles gelernt. Dazu gehörte auch, dass man sich als angeblicher Toter nicht blicken lassen durfte, da man sonst wirklich und ganz sicher durch eine Klinge sterben würde. Er hatte nur ein Mal versucht, sich auf den Weg zum Phönix-Hof zu machen, um Mehn Shia zu befreien, aber auf der ersten Straße war er direkt auf einen Erzwächter der Rin-Gilde getroffen. Dieser hatte in ihm anscheinend ein bekanntes Gesicht erkannt und ihn nach seinem Namen gefragt. Mehn Wudu hatte ihm den Schleier des Vergessens ins Gesicht werfen müssen.

Seit diesem Vorfall fürchtete er jedes Mal, wenn er die Höhle verließ, um sein Leben. Das Ziel der Gilden war es offensichtlich gewesen, die Mehn-Gilde auszulöschen und so, wie er es mitbekommen hatte, wurde behauptet, dass seine eigene Gilde Schuld an allem war, weil sie die Schätze – die in der Geschichte der Sieger jetzt Waffen waren – nicht teilen wollten. Angeblich hatten die Gilden aus Notwehr gehandelt. Aber Mehn Wudu und alle Überlebenden wussten es besser. Jedes Mal, wenn sie die Ruinen aufsuchten, um in den Trümmern nach etwas zu suchen, was die Explosion überstanden haben könnte – Metallgegenstände wie Töpfe und Pfannen, Medikamente aus dem Krankenhaus, die er damals vielleicht übersehen hatte, und weiteres –, lebte die Erinnerung neu auf.

»Ein Mann?«, fragte Mehn Wudu verwundert. »Ein Erzwächter? Warum sollte einer von ihnen zu den Ruinen zurückkehren?«

»Keine Ahnung«, antwortete Jin Gajin, wie immer mit dem künstlichen Lächeln im Gesicht, das er nie ablegte. »Er ging umher, setzte sich auf einen Steinhaufen und rührte sich dann nicht mehr. Als würde er auf etwas warten.«

»Auf was warten?«

»Feuer!«, rief Bur Nashin und klatschte begeistert in die Hände. Der Junge war wie verrückt nach allem, was brennen konnte. Zu seiner eigenen Sicherheit hatte Mehn Wudu verboten, den Atem des Drachen nach dem Rezept seiner Mutter herzustellen. Nur den Schleier des Vergessens brauchten sie, um den Leuten die Erinnerung zu rauben, die ihnen zufällig begegneten oder zu nah an ihr Versteck kamen.

Es war pures Glück, dass Mehn Wudu sich überhaupt an diese Höhle erinnert hatte, die ihnen jetzt ein Zuhause geworden war. Früher war es wohl ein Zufluchtsort für die letzten Ubren gewesen, bevor sie vollständig in den Norden vertrieben worden waren. Die Zeichnungen an den Tunnelwänden erinnerten ihn an groteske Weise daran, dass seiner Gilde praktisch dasselbe passiert war.

Die, die sich nicht fügen, werden ausgelöscht, dachte er düster. Dabei haben wir den Ubren so viel zu verdanken. Die Runensprache, die die Mehn-Gilde für ihre Schriften benutzte, stammte ursprünglich von diesem vertriebenen Volk und auch viele der Rezepte von Medikamenten hatten ihren Ursprung in Ubria.

»Vielleicht solltet Ihr wenigstens selbst hingehen und nachschauen«, schlug Jin Gajin vor. »Nehmt etwas Schleier des Vergessens mit.«

Mehn Wudu sah hinüber zu Se Laf, die für diesen Schatz verantwortlich war. Sie war für ihr ganzes Leben entstellt. Dabei war sie ein hübsches Mädchen gewesen. Jetzt verbarg sie ihre Haut unter schwarzer Trauerkleidung, die Se Rafal für sie gestohlen hatte. Ihr Bruder war der einzige, der ihr Gesicht gesehen hatte, nachdem sie den Schleier angelegt hatte.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt