Es dauerte nicht lange, bis Rin Verran das erste Tier entdeckte, das er mit etwas Geschick erlegen könnte. Es war ein Reh, dessen braunes Fell fast mit seiner Umgebung verschmolz. Sobald Rin Verran es sah, hielt er mitten in der Bewegung inne und verfluchte sich insgeheim dafür, nicht vorher schon einen Pfeil auf den Bogen gelegt zu haben. Zu viel Zeit war seit dem Unterricht mit Meister Jhe vergangen und er hatte einige Sachen über die Jagd vergessen. Dafür hatte er am Phönix-Hof so viel geübt, dass er das Reh beim ersten Schuss treffen sollte. Bevor es dazu kam, zuckte es jedoch auf einmal mit den Ohren und verschwand kurz darauf im Unterholz.
Das ist schwieriger als ich es mir vorgestellt habe, dachte Rin Verran und schlich weiter. Anscheinend war er in einen ziemlich abgelegenen Teil des Jagdgebiets geraten, denn ihm begegnete kein anderer Gilden-Anhänger. Nur ein Mal sah er ein totes Kaninchen, in dessen Schulter ein eckiges Zeichen geritzt war. Es war mit einer Schnur an einen Baumast gebunden. Wahrscheinlich würde der Jäger es später abholen.
Wie viel Zeit ist schon vergangen? Er hatte das Gefühl, viel zu lange unterwegs zu sein ohne etwas erlegt zu haben. Dabei hatte er nur eine Stunde Zeit! Ich hätte das Reh nicht entkommen lassen dürfen...
Einige Minuten später meinte Rin Verran, in einer Richtung ein hell erleuchtetes Waldstück zu sehen – wahrscheinlich eine Lichtung. Entschlossen schritt er darauf zu und wurde langsamer, als er zwei Füchse entdeckte, die auf der Wiese herumtollten und offenbar miteinander spielten. Die Entfernung zu ihnen war zwar ziemlich groß, aber bestimmt würde er es schaffen, mindestens einen von ihnen zu treffen. Geräuschlos spannte er den Bogen, auf den er diesmal vorher schon einen Pfeil gelegt hatte, und zielte. Mit einem Sirren schoss er davon und bohrte sich wie beabsichtigt genau in die Brust des einen Fuchses, der sofort in sich zusammen sackte. Der andere stieß ein erschrockenes Bellen aus und floh in den Wald.
Zufrieden trat Rin Verran aus den Schatten hervor und ging zu dem toten Fuchs hinüber. Nachdem er den Pfeil rausgezogen hatte, holte er das Jagdmesser hervor und überlegte kurz. Jeder Jäger sollte sein Zeichen in seine Beute ritzen, aber er hatte noch gar keins. Letztendlich schnitt er zwei Striche ins Fleisch, die ein ›V‹ bildeten. Nach kurzem Überlegen fügte er einen weiteren Strich hinzu, sodass das Ganze wie ein umgedrehtes ›A‹ aussah. Dann stand er auf und stockte. Für einen kurzen Moment meinte er, den Schatten einer Gestalt zwischen den Bäumen zu sehen, doch jetzt war sie nicht mehr da. Habe ich jemandem die Beute streitig gemacht? Er schaute auf den Fuchs hinunter. Besser, ich schaffe ihn von der Lichtung runter.
Nach einigem Herumhantieren mit dem Bogen und dem Pfeilköcher schaffte er es, das tote Tier von der Wiese und zwischen die Wurzeln einer Eiche zu ziehen. Sein Zeichen war deutlich zu sehen. Er musste sich nur merken, wo genau seine erste Beute lag, was nicht allzu schwierig war. Die Lichtung würde er auf jeden Fall wieder finden.
Sein Blick wanderte nach oben, um den Stand der Sonne abzuschätzen. Wie viel Zeit habe ich noch? Ich muss dringend weitere Tiere erlegen. Ein Fuchs ist garantiert nicht so viel wert wie ein Bär. Wer wohl den Bären bekommen wird? Und ob überhaupt jemand es schafft, ihn zu erlegen?
Rin Verran konzentrierte seine Gedanken wieder auf die Jagd und seine Umgebung. Während er tiefer in den Wald ging, fühlte er aus irgendeinem Grund ein unangenehmes Kribbeln am Hinterkopf. Fast, als würde jemand ihn beobachten, aber jedes Mal, wenn er sich umdrehte, war da niemand. Er würde allerdings auch garantiert nicht rufen oder fragen, wer dort war. Womöglich versuchte absichtlich jemand, ihn nervös zu machen. Vielleicht sogar Mahr Xero, dessen rotbraune Gilden-Kleidung im Wald fast nicht auffallen würde.
Unwillkürlich umklammerte er den Bogen in seinen Händen fester. Wenn Mahr Xero mir wirklich folgt, wird er genauso wenig Beute haben wie ich. Wenn nicht sogar noch weniger. Oder vertreibt er die Tiere? Ist das der Grund, warum ich so wenigen begegne? Ich hätte schon lange auf andere stoßen sollen! Wenigstens auf Kaninchen! Oder bin ich nicht mehr im Jagdgebiet? Aber ich bin an keinem Zaun vorbeigekommen. Vielleicht...
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...