Die Nacht war stiller als alle anderen zuvor. Jeder Krieger war erschöpft und schlief wie tot in einem halb zusammengefallenen oder vielleicht sogar gar nicht vorhandenem Zelt. Andere waren auf die Wiese gegangen, wo sie mit Tränen in den Augen vor den frischen Gräbern knieten und bekannte Namen in Steine meißelten. Selbst im Krankenhaus war es ruhig, obwohl viele vor Schmerzen nicht schlafen konnten. Sie lauschten auf den Atem ihrer Nachbarn und hofften, dass sie ihn auch weiterhin hören würden.
In dem Zimmer im zweiten Stock, wo die drei Feinde versorgt wurden, weinte Jhe Seyla leise. Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und hoffte, dass niemand sie hören würde, was aber sehr unwahrscheinlich war. Sun Shimei schlief zwar wie ein Stein, seit Feng Rahni ihm das Beruhigungsmittel gegeben hatte, aber Feng Hamid hatte sich vor wenigen Minuten noch auf die andere Seite gedreht. Sie hielt die Luft an, als sich die Tür auf einmal öffnete. Ein leises Knarren, dann Schritte.
Jhe Seyla presste die Lippen fest zusammen und versuchte ihr Bestes, um die Tränen aufzuhalten, die aber immer weiter aus ihren Augen quollen. Sie wusste nicht, was mehr weh tat. Ihr rechter Arm, der jetzt mit einer steinharten, weißen Masse verpackt war, oder ihr Herz. Wer ist in das Zimmer gekommen? Die Schritte waren direkt vor ihrem Bett verstummt. Ist es einer der Rebellen?
Plötzlich wurde ihr die Decke mit einem Ruck weggerissen und sie starrte in das Gesicht ihres Bruders. Es war dunkel und nur das Licht von draußen erhellte es, aber sie erkannte ihn trotzdem wieder. Wann hatte sie ihn das letzte Mal gesehen? Vor mehr als zwei Jahren? Kurz bevor sie zum Rothirsch-Turm aufgebrochen war, wo Mahr Xero ein Meister geworden war.
»Ich dachte, du wärst tot«, zischte Jhe Zaushi. Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze aus Wut und Traurigkeit, die er in diesem Moment nicht verbergen konnte. »Ich dachte, du wärst mit Vater und allen anderen in der Falken-Festung gestorben!«
Jhe Seyla wischte sich die nervigen Tränen weg und setzte sich auf. Ein Blick in Richtung Feng Hamid sagte ihr, dass der junge Mann nicht schlief und alles mithörte, aber das interessierte ihren Bruder offenbar nicht.
»Aber wenn du nicht in der Falken-Festung warst, wo warst du dann?« Er wurde etwas lauter. »Warum bist du nicht zu Vater zurückgekehrt? Das war nicht das, was abgemacht war! Du hast uns nicht mal Briefe geschrieben! Hast du vergessen, weswegen wir dich überhaupt zum Rothirsch-Turm gelassen haben? Wem gilt deine Treue?« Jhe Zaushi atmete tief ein. »Sag nicht, dass du sogar am Angriff auf die Falken-Festung teilgenommen hast!«
Jhe Seyla konnte nicht verhindern, dass ihr Kinn anfing zu zittern. Dann brach sie erneut in Tränen aus. »Es tut mir leid!«, schluchzte sie. »Es tut mir leid! Es tut mir leid!«
»Du hast...« Die Wut und Enttäuschung in der Stimme ihres Bruders war nicht zu überhören.
»Ich war nicht bei dem Angriff!« Sie kam sich so erbärmlich vor, so furchtbar erbärmlich. »Ich war nicht dabei! Ich wusste nicht mal davon! Niemand hat mir etwas gesagt! Du musst mir glauben!«
»Aber du hast auf der Seite der Ghan-Gilde gekämpft! Du warst nicht da, um unsere Gilde, um unser Zuhause zu verteidigen! Du hattest einen einzigen Auftrag und hast selbst ihn nicht durchgeführt!«
Jhe Seyla sah ihn verzweifelt an. Ihre Kehle wurde eng. So eng, dass sie nur heiser gekrächzte Worte rausbekam. »Ich bin keine Spionin!«
Jhe Zaushi verzog gequält das Gesicht. »Haben sie es wirklich geschafft, dich so zu manipulieren, dass du uns verrätst?«
»Ich habe euch nicht verraten! Ich habe nur... nur...« Ihre Stimme brach und sie suchte nach einer Erklärung für ihr Handeln. Für ihre Weigerung, Briefe vom Rothirsch-Turm zur Falken-Festung zu schicken. Briefe mit Informationen über den genauen Aufbau des Turms, wie viele Erzwächter wo postiert waren, wann der Schichtwechsel stattfand. Sie war sogar in Mahr Xeros Zimmer gewesen und hatte dort nach Dokumenten über die Pläne der Ghan-Gilde gesucht – wie sie gegen die Krieger der Sonne vorgehen würden –, hatte aber keinen Erfolg gehabt. Dafür hatte sie den Geheimgang gefunden, durch den man den Rothirsch-Turm verlassen konnte und in die Berge kam. Ein Tunnel, der im hinteren Teil der Höhle mit dem Quellen-See lag. Sie hatte sich alles gemerkt und aufgeschrieben, aber als sie oben im Taubenschlag gewesen war, hatte sie gezögert. Und den Brief dann verbrannt. Nach ihm hatte es auch keine weiteren mehr gegeben. Warum habe ich gezögert? Ich wäre eine Heldin geworden. Diejenige, die dafür gesorgt hätte, dass die Ghan-Gilde ihre Meister verliert und niemand sich mehr traut, seine Kinder zum Rothirsch-Turm zu schicken. Aus Angst vor den Kriegern der Sonne.
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...