»Schon als die Erzwächter der Ghan-Gilde und der Dul-Gilde so dreist waren, uns im Herbst, nicht lange vor dem Wintereinbruch anzugreifen, hätten wir wissen müssen, dass wir keine Chance hatten.« Rin Naremas Blick war starr auf den Tisch gerichtet, verloren in Gedanken und Erinnerungen. »Baleron hat zwar unseren verbündeten Gilden befohlen, sich auf einen Angriff vorzubereiten, aber als der dann kam, gab es zu wenig Waffen, zu wenig Fallen. Wir konnten nur hoffen, dass sie die feindlichen Truppen lange genug aufhalten konnten, damit wir wenigstens den Phönix-Hof etwas absichern konnten. Von der Mahr-Gilde haben wir uns keine Hilfe erhofft. Es war Mahr Hefay gewesen, der erst im Frühling mit einem Angriff gerechnet hatte.
All unsere schnell zusammengeworfenen Verteidigungspläne brachten nichts. Doch selbst als die feindlichen Erzwächter vor dem Phönix-Hof waren, wollte Baleron nicht aufgeben. Er hat nie aufgegeben. Er war zu stolz, musste unbedingt bis zum Schluss bleiben! Baleron hat Raelin und mich weg geschickt. Ich hätte mich geweigert, wenn Raelin nicht gewesen wäre. Und was hat Raelin gemacht?« Wut glomm in ihren Augen. »Er hat sich einfach von mir losgerissen und ist seinem Vater zur Hilfe geeilt!« Rin Narema hob den Kopf und starrte Rin Verran mit unverblümtem Hass an. »Wenn du ihn nicht so oft dazu aufgemuntert hättest, die Regeln zu brechen, hätte er das nicht getan!«
»Was kann ich denn dafür, dass er das getan hat?«, presste Rin Verran hervor, mindestens genauso wütend. »Er wollte seinen Vater retten. Er hat es mir selbst gesagt! Schieb die Schuld jetzt nicht auf mich! Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre...« Er stockte.
»Hättest du das auch getan?«, hakte Rin Narema nach. »Bist du dir da sicher? Du weißt, dass du an seiner Stelle hättest sein können? Wenn du dich daran erinnert hättest, dass Blut dicker als Wasser ist?«
Rin Verran wich ihrem Blick aus. »Wie bist du entkommen?«
»Bao Jenko, dieser Nichtsnutz, hat mich bewusstlos geschlagen und in den Wasserspeicher gezerrt, damit man mich nicht findet. Und damit ich Raelin nicht folge.«
»Bao Jenko?«
»Dein elender Freund aus der Gämsen-Pagode«, zischte Rin Narema. »Baleron hätte ihn nie in den Phönix-Hof lassen sollen!«
»Bao Jenko hat dich gerettet? Er lebt?«
»Gerettet?«, brauste sie auf. »Zu einem Leben auf der Straße hat er mich verdammt! Zu einem Leben, das nicht mehr lebenswert ist! Als alles vorbei war, als der Sonnen-Palast, die Flammen-Halle und alle anderen Gebäude nur noch Asche waren, verließen wir den Wasserspeicher. Ich war immer noch bewusstlos, aber Bao Jenko trug mich. Ich kam in irgendeinem wilden Gebüsch wieder zu mir. Das einzige, was ich bei mir hatte, war meine durchnässte Kleidung und mein Herzstück Silberstrahl. Und das Wissen, dass alle Anhänger der Rin-Gilde tot waren.«
»Raelin hat überlebt. Er wurde nur gefangen genommen.«
»Das habe ich erst Monate später erfahren. Weißt du, wie das ist? Monatelang zu denken, dass dein Sohn tot ist, niedergemetzelt von den Erzwächtern einer anderen Gilde? Und der Schuldige war direkt vor mir. Ich habe Bao Jenko gesagt, dass er abhauen soll, bevor ich ihn töte.«
Rin Verran wäre beinahe zusammengezuckt. Wo ist er jetzt? Die Frage pochte in seinem Kopf, aber er wagte es nicht, sie zu stellen. Genauso wenig konnte er fragen, ob Bao Jenko möglicherweise derjenige gewesen war, der ihm damals den seltsamen Brief geschickt hatte. Dass er versuchen würde ›sie‹ zu retten, aber nichts versprechen konnte. Waren mit ›sie‹ seine Eltern und Rin Raelin gemeint?
»Er floh wie ein Feigling«, zischte Rin Narema. »Ein wahrer Mann hätte seinem Tod ins Auge geblickt und ihn als Strafe mit erhobenem Haupt empfangen. Hätte er mich nicht bewusstlos geschlagen, hätte ich Baleron und Raelin beistehen können!«
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...