Irgendwann verlor Rin Verran die Übersicht über die Flüchtigen, die mittlerweile immer weniger durch das Tor nach draußen strömten. Er war sich nicht sicher, ob Rin Kahna, Dul Arcalla und Ghan Edhor womöglich schon dabei waren. Doch er konnte nicht weiter tatenlos herumstehen. Obwohl Meister Jhe von hinten erneut nach ihm rief, bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die ihm teilweise voller Angst und teilweise voller Feindseligkeit hinterher sah. In der Nähe des Tores blieb er stehen.
»Ist meine Tochter hier irgendwo?«, fragte er den nächstbesten Diener, der ihn überfordert und verständnislos ansah. »Rin Kahna?«
Der Mann ignorierte ihn einfach.
»Sie ist hier nicht«, ertönte auf einmal eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und stand mit einem Mal Meister Val gegenüber. Der alte Mann hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten, hatte aber einen dicken Ast gefunden, auf den er sich stützen konnte. Von Nahem sah sein Zustand noch schrecklicher aus. Sein ganzer Körper war nur Haut und Knochen und er war immer noch barfuß.
»Woher wollt Ihr das wissen?«, fuhr Rin Verran den alten Mann verärgert an und bereute es im nächsten Moment. Sein Kopf und seine Gefühle waren ein Chaos. Er hatte zwar nicht viel mit Meister Val zu tun gehabt und war immer noch geschockt davon, dass er anscheinend wegen ein paar Schriften der Auslöschung der Mehn-Gilde zugestimmt hatte, aber der alte Mann hatte seine Schuld eingestanden und schon genug Zeit im Kerker verbracht. Wer bin ich überhaupt, dass ich über ihn richten darf? Ich habe viel schlimmere Sachen getan.
»In der Tat, woher will ich das wissen?«, entgegnete Meister Val nur mit einem schwachen Lächeln.
»Tut mir leid.«
»Es ist in Ordnung«, meinte der alte Mann. »Ihr sorgt Euch nur um Eure Familie.« Er hielt kurz inne. »Eher muss ich mich bei Euch entschuldigen. Die Gier der Val-Gilde und auch aller anderen beteiligten Gilden hat dazu geführt, dass das Zuhause Eurer Mutter zerstört wurde. Und mit ihm ihre Familie und ihr Leben.«
Rin Verran überraschte es, diese Worte zu hören. »Vielleicht hätte ich damals darauf bestehen sollen, Euch als Meister zu haben«, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.
»Ich denke nicht, dass Jhe Newin das auf sich belassen hätte.« Meister Val verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und sah hinüber zu Meister Jhe, der sich neben Kar Moora niedergelassen hatte und leise auf sie einredete. »Ihr mögt es vielleicht nicht wissen und er wird es Euch nie erzählen, deswegen sage ich es Euch jetzt.«
»Was sagen?« Rin Verran hörte nur mit halbem Ohr zu, da gerade ein Teil des Daches des Krähen-Palastes eingestürzt war.
»Meister Jhe hat einst etwas für Eure Mutter empfunden. Vielleicht tut er es immer noch, obwohl sie schon lange tot ist. Aber sie lebt in Euch weiter.«
Rin Verran starrte Meister Val mit gerunzelter Stirn an. Eine Mischung aus Wut und bittersüßer Erkenntnis stieg in ihm auf. Deswegen also das ganze Theater... Er warf Meister Jhe einen kurzen Blick zu und unterdrückte ein bitteres Lachen. Dann zog er seinen Umhang enger um sich, ließ Meister Val dort stehen, wo er war, und schritt entschlossen in Richtung Tor, durch das im selben Moment die Erzwächter zurückkehrten, die Ghan Shedor losgeschickt hatte. Bei ihnen war eine Dienerin, die mit angstgeweiteten Augen einen Jungen hielt, dem der rechte Unterarm fehlte. Sie wurde sofort zu Ghan Shedor geführt, der seinen Sohn erleichtert umarmte. Und weiter hinten tauchten zwei Erzwächter auf, die ebenfalls jeweils ein Kind in den Armen hielten.
»D-Dandelion!«, schrie sofort eine Frau. Die Menge machte ihr mit erschrockenen Rufen Platz, denn ihr gesamter Oberkörper war mit Blut bedeckt. Erst auf den zweiten Blick erkannte Rin Verran Mahr Lesara, deren Sohn anfing zu weinen, als sie ihn dem Erzwächter abnahm. Zwei Flüsse aus Tränen hatten das Blut auf ihren Wangen teilweise weggewaschen, aber trotzdem war sie ein schrecklicher Anblick. Eine Hand auf ihrem runden Bauch und die andere auf dem Rücken ihres Sohnes verschwand sie wieder.
DU LIEST GERADE
Grüner Habicht und Roter Drache
MaceraBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...