Gleich am nächsten Tag brachte Rin Verran das Buch über die Auslöschung der Mehn-Gilde zurück in die Schriftensammlung und rührte es nie wieder an. Der Gedanke, dass er das Ergebnis einer Vergewaltigung sein könnte und er auch noch bei dem Vergewaltiger selbst aufgewachsen war, war kaum auszuhalten. Noch schlimmer wog aber der Gedanke, dass alles genauso gut auch eine Lüge sein könnte. Ausgedacht von einem Anhänger der Jhe-Gilde. Einem Anhänger der Gilde, aus der auch sein Meister kam.
Macht es dir Spaß, mich jeden Tag zu sehen?, dachte Rin Verran jedes Mal düster, wenn er bei Meister Jhe im Unterricht saß und sich die größte Mühe gab, zuzuhören. Ist das deine Art, sich über mich lustig zu machen? Hast du uns damals die Geschichte absichtlich erzählt?
Es dauerte fast zwei Monate, bis die Wut in ihm allmählich nachließ. Wahrscheinlich war alles nur ein Missverständnis. Ein dummes Missverständnis, wie Rin Raelin schon gesagt hatte. Wenn er genauer darüber nachdachte, gab es eigentlich ziemlich viele Möglichkeiten, wie er auf die Welt gekommen sein könnte, und der Autor des Buches hatte sich einfach die schlimmste ausgesucht.
Rin Verran ging nun häufiger mit seinem Bruder auf die Wiese, um verschiedene Spiele zu spielen. Bao Jenko war immer dabei. Mittlerweile lernte er auch nicht mehr so viel. Hoffte jeden Abend, dass das, was er heute gemacht hatte, für morgen reichen würde. Das Mädchen mit dem grünen Band hatte Rin Verran immer häufiger mit Mahr Xero zusammen gesehen und seine Hoffnung, dass sie sich ihm zuwenden würde, schwand seit dem Vorfall in der Schriftensammlung mit jedem Tag. Unter anderem deshalb ging er auch immer seltener dahin. Natürlich bemerkte Meister Jhe, dass er etwas nachgelassen hatte, doch die Schimpftiraden ließ er klaglos über sich ergehen.
»Die Prüfung«, verkündete Meister Jhe schließlich einen Monat, bevor sie ein Jahr in der Gämsen-Pagode gewesen wären, »ist sehr wichtig. Sie findet in zwei Wochen statt. Dort wird alles abgefragt, was ich euch beigebracht habe. Jedes Buch, jede Schriftrolle, jedes Wort«, er blieb vor Rin Verran stehen und schaute mit zusammengezogenen Augenbrauen auf ihn hinab, »ist wichtig. Habt ihr das verstanden?«
»Ja, Meister«, sagten Rin Verran und Rin Raelin gleichzeitig.
»Ich erwarte, dass ihr alle Fragen richtig beantworten könnt. Enttäuscht mich nicht.« Seine Stimme war kalt wie immer. »Damit ihr genug Zeit habt, um euch vorzubereiten, müsst ihr bis zur Prüfung nicht mehr zum Unterricht kommen.« Statt sie zu entlassen, war er derjenige, der den Raum als Erster verließ. Seine Schritte verklangen irgendwo im Flur der Gämsen-Pagode.
Rin Raelin und Rin Verran sahen sich an und fingen sofort an zu grinsen.
»Er denkt wirklich, wir werden lernen?«, fragte Rin Raelin. »Bis zur Prüfung sind es noch ganze zwei Wochen! Als ob wir so viel Zeit brauchen!«
»Denkst du, die anderen bekommen auch frei?«, überlegte Rin Verran.
»Das lässt sich schnell herausfinden!«
Rin Raelin ergriff die Schriftrollen, die sie heute mitgenommen hatten, und huschte hinaus auf den Flur. Rin Verran folgte ihm mit seinem eigenen Schreibzeug. Meister Jhe hatte sie etwas früher rausgelassen, weswegen sie eine Weile warten mussten, bis die Türen der anderen Unterrichtsräume aufgingen. Die Schüler von Meister Erjan strömten zuerst hinaus, dann die von Meister Val. Rin Verran entdeckte Ghan Idos in der Menge, der wieder von dem Mädchen mit den hellbraunen Locken begleitet wurde. Mittlerweile hatte er herausgefunden, dass sie Wrun Lilath hieß – und außerordentlich viel und gerne fluchte. Wie erwartet ballte Rin Raelin beim Anblick des arroganten Arschlochs die Fäuste.
Als letztes öffnete sich die Tür des Unterrichtsraums von Meisterin Zha. Die beiden Brüder warteten, bis alle gegangen waren und endlich Bao Jenko in Begleitung der Meisterin selbst heraus kam. Wie immer war er bis zum Schluss geblieben, um der elegant gekleideten Frau ein paar Fragen zu stellen. Als sie sah, dass Rin Verran und Rin Raelin scheinbar auf einen ihrer Schüler gewartet hatten, schmunzelte sie belustigt und klappte ihren Fächer auf, um sich Luft zuzuwedeln.
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Grüner Habicht und Roter Drache
एड्वेंचरBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...