Kapitel 58: Meister - Teil 2

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Die Monate zogen sich dahin als würden sie auf einmal aus doppelt so vielen Tagen bestehen. Rin Verran kam es vor, dass Ghan Shedor jetzt, da sein Leibwächter der Gründung einer eigenen Gilde zugestimmt hatte, absichtlich alles tat, um seine Abreise zu verzögern. Mal musste er eine der nahegelegenen Städte besuchen und brauchte ihn dort an seiner Seite. Mal gab er ihm die Aufgabe, einige Erzwächter zusammenzurufen, um aufständische Gruppen in den besetzten Territorien niederzuschlagen. Kurz gesagt: All die Sachen, um die sich Ghan Leddan früher gekümmert hatte, wurden nun Rin Verran übertragen. Und von Ghan Shedors Onkel fehlte immer noch jede Spur.

Etwa Ende des Sommers kam dann die Nachricht, dass ein Reisender, der am Drachen-Heim vorbei gekommen war, ein Grab weiter flussabwärts gefunden hatte, auf dem ein Stein mit Ghan Leddans Namen lag. Das erklärte zwar nicht, warum Rin Verrans Leute es nach der Eroberung des Forellen-Pavillons nicht gefunden hatten, aber dafür, warum keine Nachrichten mehr von ihm gekommen waren. Wer letztendlich für seinen Tod verantwortlich war, blieb unklar. Einige vermuteten eine der aufständischen Gruppen dahinter, die sich mittlerweile in fast allen Territorien erhoben. Besonders aber in der Feuerkorn-Steppe. Die Menschen dort hatten die Hoffnung, dass Gilden-Anführerin Rin möglicherweise noch am Leben war, nicht verloren. Zusätzlich kochte in ihren Herzen der Zorn über die schrecklichen Dinge, die die Anhänger der Ghan-Gilde und der Dul-Gilde damals nach der Eroberung getan hatten. Fast jeden Tag kamen Nachrichten von Überfällen auf Militärposten, woraufhin Rin Verran wieder eine Truppe Erzwächter zu Hilfe schicken musste.

»Wenn die Bevölkerung nichts zu tun hat, sucht sie sich unmögliche Beschäftigungen, die nur schaden«, sagte Ghan Shedor eines Nachmittags und bedeutete Rin Verran mit einer Handgeste, sich zu setzen. Sie befanden sich nicht in der Versammlungshalle, sondern in einem kleineren Saal, der aber nicht weniger prächtig geschmückt war. In der Mitte des Raumes stand ein rechteckiger Tisch, an dem außer Ghan Shedor und Rin Verran noch fünf weitere Personen saßen.

Rin Verran kannte vier von ihnen und war bei dreien von ihnen erstaunt, sie überhaupt hier zu sehen. Er hatte keine Ahnung, worum es bei diesem Treffen ging. Entsprechend wachsam schob er den Stuhl zurück und setzte sich gegenüber von Ghan Shedor.

Links neben ihm saß Wrun Tarebo, den er seit dem Zatos auf den Inseln der Dul-Gilde nicht mehr gesehen hatte. Angeblich war er jetzt der Gilden-Anführer der Wrun-Gilde, hatte jedoch keinerlei Pläne, zu heiraten oder Kinder zu bekommen, weswegen er von den anderen mittlerweile spöttisch ›Jungmann‹ genannt wurde, was sie wohl für ein lustiges Wortspiel hielten. Es war klar, dass seine Gilde nach ihm aussterben würde, aber trotzdem trug er weiterhin stur die gelbe Kleidung mit den weißen Schmuckstreifen an den Säumen.

Einen Platz weiter saß Wrun Lilath. Als einzige am Tisch trug sie langärmlige Kleidung mit einem hohen Kragen und zusätzlich noch schwarze Lederhandschuhe, die ihre Brandnarben vom Angriff der Drachenklauen auf Muwam vollständig verbargen. Sie hatte den Rücken gerade durchgestreckt als könnte nichts auf der Welt sie dazu bringen, sich jemandem oder etwas zu beugen.

Rechts von Rin Verran und an der kurzen Seite des Tisches starrte Mahr Xero düster ins Leere. Er sah zwar nicht mehr so schmutzig und mitgenommen aus wie als er den Kopf seines Vaters vorgezeigt hatte, doch den Bart hatte er behalten. Sein Gesicht wirkte wie eine Maske, die er sich zurechtgelegt hatte, um nicht sofort zusammenzubrechen, und mit den Fingern umklammerte er die Tischkante, damit die anderen sein Zittern nicht sehen konnten.

Ghan Shedor wurde auf einer Seite von seiner Ehefrau Ghan Minue flankiert, die sich von dem Schock und dem Kummer, einen behinderten Sohn geboren zu haben, offensichtlich erholt hatte. Ein schüchternes Lächeln lag auf ihren Lippen. Auf der anderen Seite des Gilden-Anführers saß ein Mann, den Rin Verran noch nie gesehen hatte. Er hatte eine dunkle Ausstrahlung, die ihn unnahbar erscheinen ließ, was durch den Griff des Schwertes, der hinter seinem Rücken hervor ragte, noch verstärkt wurde. Irgendwas an ihm sieht Ghan Shedor ähnlich. Und dann auch wieder nicht. Rin Verran konnte nicht recht sagen, was es war, das bei ihm diesen Gedanken hervorrief.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt