Kapitel 95: Drache - Teil 1

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Vor siebenundzwanzig Jahren am Phönix-Hof der Rin-Gilde.

Das weiß-rote Gewand der Tänzerin wirbelte durch die Luft, beschrieb Formen, die Mehn Wudu gar nicht für möglich gehalten hätte. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie die Menge den Blick ebenfalls nicht von ihr losreißen konnte. Es musste nicht ausgesprochen werden, alle wussten es schon: Diese Tänzerin würde ohne Zweifel den Wettbewerb gewinnen. Eine junge Frau am Rand brach sogar in Tränen aus, weil sie direkt danach antreten musste. Als die Tänzerin mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen einige Sekunden in ihrer letzten Pose stehen blieb, brach ohrenbetäubender Applaus aus. Mehn Wudu fiel aus Höflichkeit mit ein.

Statt wie der Großteil der Anwesenden zu der Tänzerin zu drängen und ihr seine Bewunderung auszusprechen, sah er sich nach Mu Zairda um. Sie hat versprochen, zu diesem Zatos zu kommen. Eigentlich war sie gerade in ihrem letzten Jahr an der Gämsen-Pagode, aber da sie, wie so viele andere, durch die Territorien reiste, hatte sie versprochen, hier vorbei zu kommen. Sie schrieben sich regelmäßig Briefe und sobald er erfahren hatte, dass dieser Zatos von der Rin-Gilde organisiert wurde, hatte er ihr sofort Bescheid gesagt.

»Warum so trübselig?«, ertönte eine Stimme hinter ihm. Als er sich umdrehte, grinste Mehn Shia ihn frech an und wackelte mit den Augenbrauen. »Sucht mein Bruder etwa nach einer gewissen Mu Zairda?«

»Woher weißt du das?«, platzte er erschrocken heraus.

»Es ist offensichtlich, dass du sie magst«, meinte Dia Nemesis, die mit verschränkten Armen neben seiner Schwester stand. Er hatte nie verstanden, warum Mehn Shia mit dieser Frau befreundet war. Sie war eine unangenehme Zeitgenossin und schien überhaupt keine Emotionen zu besitzen. Ihr Gesicht war immer hinter einer regungslosen Maske verborgen. Vielleicht war sie es sogar gewesen, die Mehn Shia dazu überredet hatte, an der Jagd teilzunehmen.

»Und was ist mit dir?«, lenkte Mehn Wudu vom Thema ab.

»Was sollte mit mir sein?«, fragte seine Schwester.

»Bist du wieder dem Kerl begegnet, der dir beim letzten Zatos die Beute streitig gemacht hat?«

Mehn Shia verdrehte die Augen. »Zum Glück nicht. Ich glaube, er hat seine Lektion gelernt. Er hat sich dieses Mal nicht mal in meine Nähe getraut. Dabei habe ich mir nur für ihn einige Sprüche überlegt, sollte er nochmal damit kommen, dass Heiler weder jagen noch kämpfen können.«

Mehn Wudu lachte auf. Typisch, dachte er und sah auf die andere Seite des freien Platzes, wo einige Anhänger der Jhe-Gilde standen. Er hatte bisher nie verstanden, warum man als Mann freiwillig weiße Kleidung mit violetten Blumen trug. Aber wenn er genauer darüber nachdachte, hatte das irgendeinen seltsamen Effekt auf die ganzen Mädchen und jungen Frauen. Einige warfen den zwei Jhe-Brüdern immer wieder flammende Blicke zu. Doch nur der ältere, Jhe Beishi, reagierte und nahm die Einladung einer Frau zum Tanz an. Jhe Newin hingegen blieb dort, wo er war. Für sein Alter war er schon beeindruckend erfolgreich. Angeblich war er von Val Hiro persönlich als Meister in die Gämsen-Pagode eingeladen worden. Umso unverschämter, dass er Mehn Shia beim letzten Zatos so angefahren hatte. Hoffentlich würde er die Narbe nie vergessen, die seine Schwester ihm zugefügt hatte.

»Dann warte mal weiter auf deine Mu Zairda«, sagte Mehn Shia und klopfte Mehn Wudu auf die Schulter. »Ich schau mich um, ob ich denjenigen finde, der mir einen besseren Platz bei der Jagd weggenommen hat.«

Mehn Wudu schaffte es nicht mehr, ihr irgendwas hinterher zu rufen. So schnell, wie sie aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder in der Menge. Dia Nemesis folgte ihr mit der Hand am Griff ihres Breitschwertes. Solange sie in der Nähe von Mehn Shia war, waren Se Rafal, der eigentliche Leibwächter seiner Schwester, und Se Laf, ihre treue Dienerin, praktisch arbeitslos. Wahrscheinlich hingen die zwei Geschwister wieder irgendwo bei seinen Eltern herum und halfen ihnen, alles für den letzten Wettbewerb vorzubereiten, der irgendwann am Abend stattfinden würde.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt