Sechs Monate später im Drachen-Heim der Mehn-Gilde.
Mehn Wudu erwachte, wie immer seit seiner Hochzeit, mit einem Lächeln auf den Lippen. Mehn Zairda lag neben ihm. Die orangenen Locken waren noch ungekämmt und standen ihr wild vom Kopf ab, als sie sich bei seiner Berührung auf ihre Ellenbogen stützte und ein Stück nach oben stemmte.
»Warum so früh?«, murmelte sie verschlafen.
»Die Gilden-Anführer der Mahr-Gilde kommen heute zu Besuch«, antwortete er. »Ich soll dabei sein, hat Vater gesagt.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ruh dich aus so lange du willst. Ich komme so bald, wie ich kann, wieder.«
»Kann ich nicht mitkommen?«
Mehn Wudu zögerte. »Ich weiß nicht, ob die Gilden-Anführer vielleicht mit ihrem Sohn kommen.«
Bei der Erwähnung von Mahr Hefay verzog Mehn Zairda ihr Gesicht. Es war noch nicht so lange her, dass der junge Mann sie unanständig bedrängt hatte, als sie sich zufällig mal auf der Straße begegnet waren. Dabei war Mehn Wudu sogar an ihrer Seite gewesen und es war allgemein bekannt, dass sie verheiratet waren. Wie gerne hätte ich ihn damals niedergeschlagen, dachte Mehn Wudu. Aber er ist immerhin der Sohn der Gilden-Anführer der Mahr-Gilde.
Da der Gesichtsausdruck von Mehn Zairda ihm genug war, machte Mehn Wudu sich schnell fertig und verließ alleine das gemeinsame Schlafzimmer. Draußen auf dem Gang stieß er beinahe mit Se Laf zusammen, die hastig irgendwelche Entschuldigungen rief. Bevor sie weiter eilen konnte, hielt er sie jedoch am Unterarm fest. Wenn die Dienerin seiner Schwester es so eilig hatte, bedeutete das meistens nichts Gutes.
»Wo ist Shia?«, fragte er scheinbar beiläufig.
Se Laf lachte nervös. »Wo sollte sie sein? Im Krankenhaus natürlich. Sie kümmert sich um einen Verletzten aus der Zha-Gilde.«
»Wirklich?« Mehn Wudu hob ungläubig die Augenbrauen. »Der, der gestern schon nach Hause geschickt wurde?«
»Äh...« Das Mädchen runzelte die Stirn auf der Suche nach einer neuen Ausrede.
»Und wo ist dein Bruder?«
»Hm?«
»Ist Se Rafal mit Shia irgendwo hin abgehauen?«
»Nein!« Se Lafs Ausruf endete in einem frustrierten Seufzen. »Ja. Sie sind bei dem kleinen Wäldchen.«
Mehn Wudu nickte zufrieden.
»Wartet! Wo geht Ihr hin? Sie möchte nicht gestört werden!»
»Die Gilden-Anführer der Mahr-Gilde kommen zu Besuch. Sie kann sich nicht davor drücken.«
Er stieg die Treppe des Khamtar-Hauses – wie das Hauptgebäudes genannt wurde – hinunter und verließ es durch die Hintertür. Das kleine Wäldchen, das Se Laf erwähnt hatte, befand sich nahe des Fernen Stroms. Mehn Shia kletterte dort gerne auf einen der Bäume, wenn sie ihre Ruhe haben und nicht gefunden werden wollte. Während er zwischen den Stämmen hindurch ging, folgte Se Laf ihm und redete ununterbrochen auf ihn ein, um ihn zum Umkehren zu bewegen.
»Ist schon gut«, ertönte auf einmal Mehn Shias Stimme von oben.
Mehn Wudu legte den Kopf in den Nacken und sah seine Schwester auf einem Ast in schwindelerregender Höhe sitzen. Sie hatte ein Bein sogar über den Rand hängen und schwang es hin und her. Auf dem Ast unter ihr saß Se Rafal, ihr Leibwächter, dessen wachsamen Augen keine einzige Bewegung entging. Er und Se Laf waren Geschwister, sogar Zwillinge. Beide waren trotz ihres jungen Alters Mehn Shia unterstellt worden. Se Rafal, weil er äußerst talentiert im Kampf war, obwohl er nie die Gämsen-Pagode besucht hatte, und Se Laf, weil sie besonders schnell und eifrig arbeitete. Und vielleicht auch, weil ihr Bruder darauf bestanden hatte, dass sie ebenfalls eingestellt wurde.
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Grüner Habicht und Roter Drache
MaceraBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...