Rin Verran starrte ratlos auf die Eiche, vor der er stand. War ich so tief in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkt habe, wie weit ich gekommen bin? Er schaute zurück. Beim besten Willen konnte er sich nicht daran erinnern, die Apfelplantage bereits hinter sich gelassen zu haben. Wo waren Paat Jero und die anderen? Eigentlich hätte er sie von hier aus doch noch sehen müssen? Er wollte den Pfad wieder ein Stück zurück gehen, als sein Fuß gegen etwas stieß, was am Boden lag. Habichtfeder. Habe ich sie fallen gelassen? Verwirrt hob er sein Schwert auf und steckte es wieder in die Scheide. Dabei bemerkte er, dass seine Kleidung seltsam ungeordnet und staubig war. Bin ich hingefallen und hab mir den Kopf gestoßen? Ihm war in der Tat etwas schwindelig.
Hastig tastete er sich ab, konnte aber keine Verletzungen feststellen, und ging schließlich an der Eiche vorbei weiter den Rotapfel-Berg hoch. Doch dann stockte er. Ich bin schon so weit oben. Eigentlich müssten die Drachenklauen hier irgendwo sein. Er legte die Hand aufs Schwert und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Keine vermummten, schwarzen Gestalten. Vielleicht sollte er noch etwas warten? Würden sie überhaupt kommen?
Er beschloss, bei dieser Eiche zu bleiben und drehte seinen Rücken dem Stamm zu. Kurz überlegte er, den Baum auch hoch zu klettern, aber mit seinem Umhang könnte das etwas schwierig werden. Und ablegen wollte er ihn auch nicht. Geduldig wartete er, behielt dabei den Stand der Sonne im Auge. Eine Stunde hatte Paat Jero ihm gegeben, abgezogen der Zeit, die er brauchte, um wieder nach unten zu gehen. Warum kam es ihm so vor, als wäre bereits viel mehr Zeit vergangen?
Als auch nach zwanzig Minuten niemand kam, entschied er, nicht mehr länger zu warten. Rin Verran schaute sich ein letztes Mal um und kehrte auf demselben Pfad zurück, den er auch hoch genommen hatte. Warum hatte er das Gefühl, diese Apfelbäume links und rechts von sich noch nie gesehen zu haben? War er hier nicht vorbei gekommen? Belustigt über sich selbst schüttelte er den Kopf. Endlich entdeckte er einige Bäume, die ihm bekannt vorkamen. Wäre auch seltsam gewesen, wenn nicht.
»Rin Verran«, begrüßte Paat Jero ihn und trat aus dem Gebüsch am Wegrand. In seinen Haaren hing ein gelbes Blatt, das er mit den Fingern weg schnippte. »Ihr habt Euch aber wirklich Zeit gelassen. Wie ist es gelaufen?«
»Es ist niemand gekommen.«
Der ältere Mann sah ihn entgeistert an. »Wie, es ist niemand gekommen? Soll das ein Scherz sein?«
»Sein letzter ›Scherz‹ war auch kein Scherz«, bemerkte einer der anderen Erzwächter und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«, rief Paat Jero. »Wollten die Drachenklauen sich nicht unbedingt mit Euch treffen? Wie kann es sein, dass sie jetzt nicht da sind? Ich hätte einen Hinterhalt oder eine Falle erwartet, aber dass sie gar nicht aufkreuzen? Was soll das denn?«
»Ich kann es mir auch nicht erklären.« Rin Verran zuckte mit den Schultern und grinste leicht. »Vielleicht haben sie Angst vor mir.«
»Ganz bestimmt«, spottete Paat Jero, während einer der anderen Erzwächter flüsterte: »Ich würde mich nicht wundern.«
»Werdet Ihr nochmal hoch gehen?«, fragte Paat Jero. »Vielleicht trauen sie sich nur abends auf den Berg. Zugegebenermaßen kann es ja sein, dass tagsüber mehr Leute den Pfad entlang gehen und sie zufällig sehen.«
»Abends?« Rin Verran überlegte. »Das ist mir zu gefährlich. Sie könnten sich zwischen den Apfelbäumen verstecken und ich würde sie nicht sehen.«
Paat Jero nickte. »Ich verstehe. Was machen wir dann?«
»Offenbar haben die Drachenklauen wohl doch kein Interesse daran, mit uns zu reden und sich zu erklären«, sagte Rin Verran. »Ich würde vorschlagen, dass wir das machen, wofür wir eigentlich hergekommen sind. Die Augen nach ihnen offen halten und Kothar verteidigen, sollte es zu einem Angriff kommen.«
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Grüner Habicht und Roter Drache
DobrodružnéBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...