Kapitel 54: Ablehnung - Teil 3

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Zur gleichen Zeit hätte in der Gämsen-Pagode ein Kampf um Leben und Tod entbrennen sollen. Zunächst hatten die Erzwächter der Ghan-Gilde mit hohen Leitern – die Ghan Edhor genau für diesen Zweck entworfen hatte – nach vorne stürmen und sie gegen die Mauer lehnen wollen, um so ins Innere der Gämsen-Pagode zu kommen, doch dann hatte das große Tor sich ganz von alleine geöffnet. Vier Gestalten erschienen auf der Brücke. Die vier Meister der Val-Gilde.

»Was haben sie vor?«, fragte jemand verunsichert. »Ergeben sie sich?«

Ghan Idos wusste selbst nicht, was er davon halten sollte. Er sah nur, dass die vier Meister alleine zu sein schienen. Die Gämsen-Pagode hinter ihnen war vollkommen verlassen. Sie hatten die Schüler also wirklich nach Hause geschickt. Aber wo waren all die Erzwächter, die normalerweise auf den Mauern stationiert waren? Wo waren die restlichen Anhänger? Versteckten sie sich in einem der Stockwerke der Gämsen-Pagode? Vielleicht jeder mit Pfeil und Bogen? Würden sie schießen? Ghan Idos umfasste seinen Bogen Klageschrei sogleich fester. Das rote Band, das an einem Ende befestigt war und ihm die Windrichtung anzeigte, flatterte leicht. Er könnte jeden der Meister jetzt gleich mit vier gut gezielten Schüssen niederstrecken. Aber vielleicht wollten sie gar nicht kämpfen? Ergaben sie sich? Er hatte davon gehört, was im Rothirsch-Turm passiert war. Welches Chaos dort geherrscht hatte, weil die Erzwächter nach ihrer langen Reise enttäuscht gewesen waren.

»Was sollen wir tun, Herr Ghan?«, fragte einer der Männer neben ihm.

Ghan Idos rührte sich nicht, sah nur hinüber zu den vier Meistern, die sich ihnen jetzt immer weiter näherten. Sie trugen keine Rüstung, dafür aber ihre Waffen. Die Gesichter waren zwar unter Kapuzen versteckt, aber auch so konnte er genau sagen, wer wer war. Val Zirro und Val Erjan gingen in der Mitte. Rechts des Gilden-Anführers war Jhe Newin, an dessen Seite ein Schwert hing. Links von Meister Erjan schritt Zha Denja, die ihren Fächer in der Hand hielt als würde er ihr im Kampf irgendwie helfen. In der Mitte der Brücke blieben sie stehen.

»Wir werden die Gämsen-Pagode nicht kampflos aufgeben«, ertönte die Stimme von Meister Val. »Und wir werden nicht zulassen, dass die Ghan-Gilde weiterhin jedem den Krieg erklärt, der auch nur annähernd etwas mit den Drachenklauen zu tun hat.«

»Wie möchte er das denn verhindern«, spottete jemand aus den hinteren Reihen. »Außerdem ist es doch gut, wenn alle Helfer der Drachenklauen ausgelöscht werden!«

»Die Val-Gilde hat sich das alles selber eingebrockt! Warum ist sie nicht weiterhin neutral geblieben?«

»Warum gibt Herr Ghan nicht einfach das Zeichen zum Angriff?«

Ghan Idos haderte damit, überhaupt einen weiteren Schritt in Richtung der vier Meister zu tun. Val Zirro war sein Meister gewesen. Gegen ihn zu kämpfen wäre fast, als würde er gegen seinen eigenen Vater kämpfen. Und so, wie Meister Val es eben gesagt hatte, hörte es sich an, als würde er die Gämsen-Pagode mit seinem Leben verteidigen. Ihn zu töten... Egal, was Ghan Shedor befohlen hatte, aber seinen eigenen Meister zu töten kam nicht in Frage.

»Warum greift er nicht an?«, fragte wieder jemand. »Warum zögert er? Hat er etwa Angst?«

Ghan Idos biss die Zähne zusammen. Wer hat hier Angst? Zähneknirschend hob er die Faust und rief: »Angriff!«

Sofort stürmten die Erzwächter an ihm vorbei und auf die vier Meister zu, während Ghan Idos zur Seite trat und einen Pfeil auf den Bogen legte. Überlegte, wen er erschießen sollte. Angeblich war Meister Jhe derjenige, der am besten kämpfen konnte. Doch seine Gestalt war zurzeit zu weit hinten. Er verteidigte den linken Teil der Brücke gegen vier Erzwächter gleichzeitig. Metall traf auf Metall, es klirrte und schepperte. Irgendwie schaffte er es, trotz der heftigen Bewegungen seine Kapuze auf zu behalten. Wirbelte hin und her, drehte sich, teilte Schläge nach allen Seiten aus.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt