Kapitel 89: Zuflucht - Teil 1

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Die Nadelbäume des Rotkiefer-Hains bildeten eine gute Deckung, um ein Pferd und ein Mädchen zu verstecken. Irgendwo erklang das stetige Hämmern eines Spechts und ein Vogel trillerte im Geäst. Ghan Reva sah mit großen Augen den Stamm der Kiefer hoch, an der Rin Verran sie abgesetzt hatte. Sie waren zwar schonmal hier vorbeigekommen, waren aber nur für die Nacht in den Wald hinein gegangen und in der Dunkelheit konnte man natürlich nicht sehen, wie hoch die Bäume eigentlich waren.

»Bleib hier«, sagte er und sah sie so streng an, wie er es über sich bringen konnte. »Dieses Mal wirklich. Ich meine es ernst. Geh nicht weiter in den Wald hinein und komm nicht raus. Egal, was du hörst. Ich komme dich holen. Wenn jemand anderes als ich kommt, dann halte ihm das entgegen.« Er gab ihr Ghan Idos' Dolch mit dem Griff voran.

Ghan Reva sah ihn ängstlich an. »Aber du kommst doch wieder?«

»Ja.« Rin Verran wich ihrem Blick jedoch aus. Er hatte begriffen, dass es nur eine Möglichkeit gab, die Gämsen-Pagode zu betreten und das war durch das Tor. Es musste ihm geöffnet werden, was aber nur passieren würde, wenn er sich zu erkennen gab. Und dann auch nur, damit Meister Jhe rauskommen und ihn persönlich umbringen konnte, so wie er es in seinem Brief angekündigt hatte.

»Du lügst«, sagte Ghan Reva mit Tränen in den Augen. »Lass mich nicht allein. Ich habe Angst.«

»Du brauchst keine Angst zu haben.« Rin Verran umarmte sie. »Ich werde mein Bestes tun, um wiederzukommen. Ich lasse dich nicht alleine.« Er löste sich von ihr und strich ihr mit der Hand über den Kopf, um sie zu beruhigen. »Alles wird gut. Ich muss nur mit jemandem reden und dann können wir in die Gämsen-Pagode und in Sicherheit. Da sind viele gute Leute. Sie werden sich um dich kümmern. Sie werden Hasi gesund machen und dir zeigen, wie du auf der Flöte von deiner Mama spielen kannst.«

Ghan Reva schniefte und nickte dann langsam.

Rin Verran stand auf, atmete tief durch und trat aus dem Wald hinaus. Mit einem Blick nach hinten vergewisserte er sich, dass das Mädchen wirklich in Deckung blieb, bevor er Habichtfeder zurecht rückte und das letzte Stück zur Brücke ging.

Auf den Mauern der Gämsen-Pagode war es unheimlich ruhig. Er sah keine einzige Gestalt, keine Pfeilspitzen, die im Sonnenlicht funkelten, nicht mal Schatten. Hatten die Krieger der Sonne die Pagode etwa verlassen? Waren jetzt wieder Erzwächter der Ghan-Gilde darin? Mit jedem Schritt wuchs seine Nervosität, aber er ging trotzdem weiter. Als sein Stiefel den ersten Stein der Brücke berührte, ertönte plötzlich ein Schrei und mit einem Mal tauchten mindestens zwanzig Bogenschützen auf den Mauern auf.

»Halt!«, rief eine Frau. »Keinen Schritt weiter oder wir schießen dich nieder wie wir es schon mit Hunderten vor dir getan haben!«

Rin Verran blieb stehen und hob die Hände.

»Jetzt dreh dich um und verschwinde!«

Rin Verran holte tief Luft. »Ich möchte mit Meister Jhe Newin sprechen!«

Für einige Sekunden war es still. Dann hallte Gelächter von den Mauern zu ihm herab.

»Für wie dumm hälst du uns?«, rief wieder die Frau. »Sollen wir für dich und deine Kumpel aus der Ghan-Gilde vielleicht gleich ein Willkommensfest schmeißen? Verschwinde habe ich gesagt!«

Doch Rin Verran verschwand nicht, sondern trat wachsam einen Schritt auf die Brücke. Sogleich ertönte das Sirren eines Pfeils, der nur eine Handbreit vor seiner Stiefelspitze am Stein abprallte und zur Seite flog.

»Der nächste geht in dein rechtes Auge!«, rief die Frau. »Oder auch in das linke. Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Ich gehöre nicht zur Ghan-Gilde!«, erklärte Rin Verran. »Und es weiß auch keiner, dass ich hier bin! Ich möchte nur Meister Jhe Newin sprechen!«

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt