Es erwies sich als noch schwerer als erwartet, alle geflohenen Bewohner Muwams in Kothar unterzubringen. Selbst nach drei Tagen saßen einige von ihnen immer noch auf der Straße oder stritten sich mit denen, die ein eigenes Bett bekommen hatten, um die Decken und Kissen. Rin Verran hatte sein Zimmer im Gasthaus einer Familie mit drei Kindern überlassen, die ihm dafür mit der Hälfte ihrer ohnehin schon wenigen Habseligkeiten danken wollten, aber er hatte abgelehnt. Er fragte sich, ob er auch so geendet hätte, wenn er Dul Nehmons Vorschlag abgelehnt hätte.
»Ab hier müsst Ihr alleine weiter«, sagte Paat Jero und blieb stehen. Die drei Erzwächter der Dul-Gilde, die ihn begleiteten, taten das ebenfalls. Der ältere Mann klopfte Rin Verran ermutigend auf die Schulter. »Denkt daran, was wir abgesprochen haben. Versucht, so viel wie möglich über die Drachenklauen herauszufinden. Lasst sie reden und merkt Euch ihre Stimmen und ihr Aussehen, falls sie nicht maskiert sind. Und kommt in einer Stunde wieder. Sonst kommen wir Euch holen.«
Rin Verran nickte entschlossen, atmete tief durch und setzte seinen Weg nach oben alleine fort. Den Rotapfel-Berg konnte man nicht wirklich als Berg bezeichnen. Er war eher ein sehr großer Hügel, auf dem einige Bauern ihre Apfelplantagen stehen hatten. So spät im Herbst waren die Früchte jedoch schon lange geerntet worden und die Blätter der Bäume waren eine Mischung aus braun und gelb. Das heruntergefallene Laub lag quer über den Pfad verstreut und raschelte bei jedem Schritt.
Von der alten Frau, die ihn auf den Angriff hingewiesen hatte, hatte er erfahren, dass die Apfelbäume ab einer gewissen Höhe weniger wurden. Vermutlich würden die Drachenklauen dort auf ihn warten, aber sicher war er sich nicht. Alle paar Schritte ließ er den Blick über die bunte Landschaft um sich herum schweifen. Auf der Suche nach schwarz gekleideten Gestalten, die sich irgendwo versteckten. Doch es war niemand da. Also ging er weiter.
Wie angekündigt kam irgendwann das Ende der Apfelplantage. Trotzdem wuchsen links und rechts des Weges aber noch einige Bäume. Rin Verran spürte, wie eine gewisse Anspannung in ihm aufstieg. Was, wenn der Brief nur dazu da war, um ihn in eine Falle zu locken? Wollten die Drachenklauen ihn töten? Warum? Unwillkürlich fasste er Habichtfeders Griff fester.
Plötzlich tauchte hinter der Eiche nur einige Schritte von ihm entfernt eine Gestalt auf. Schwarzer Stoff flatterte leicht im Wind, kräuselte sich als wäre er ein Teich mit kleinen Wellen. Rin Verran hielt sofort an. Eine Drachenklaue? Er wartete einige Sekunden, der ganze Körper angespannt und bereit, Habichtfeder jeden Moment zu ziehen. Aber die Gestalt rührte sich nicht von der Stelle, schien ihrerseits zu warten.
Schließlich presste Rin Verran die Kiefer zusammen und ging entschlossen zu der Gestalt hin. Aus der Ferne war er sich nicht sicher gewesen, doch jetzt erkannte er, dass die Person tatsächlich ein Trauergewand trug. Eine Art weites, schwarzes Kleid. Das Gesicht war mit einem Schleier verdeckt, der von einem breitkrempigen Hut herab hing. Die leichte Wölbung im Brustbereich deutete an, dass er vor einer Frau stand. Aber es war unmöglich zu sagen, wer sie war.
»Ihr seid der Einladung also gefolgt.« Ihre Stimme war ungewöhnlich tief für eine Frau und hatte gleichzeitig eine seltsam beruhigende Wirkung. Der Schleier vor ihrem Gesicht bewegte sich leicht bei jedem Atemzug.
»Einer Einladung, die mit einem Pfeil abgeschossen wurde, ist normalerweise nicht zu trauen«, entgegnete Rin Verran. »Wo sind die anderen Drachenklauen?«
»Sie haben mich geschickt, damit ich mit Euch rede.«
»Und wer seid Ihr?« Er bezweifelte zwar, dass er darauf eine Antwort bekommen würde, aber versuchen konnte er es.
»Ihr könnt mich die Motte nennen«, sagte die Frau ausweichend.
»Warum tragt Ihr diese Trauerkleidung?«, fragte Rin Verran spontan. »Ist bei dem Angriff auf Muwam einer Eurer Leute gestorben?«
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Grüner Habicht und Roter Drache
AventuraBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...