Es vergingen nur zwei Tage, bis die Tür sich öffnete und ein Diener Rin Verran darum bat, ihm in den Muschel-Saal – die Versammlungshalle der Dul-Gilde – zu folgen. Er war so überrascht, dass er erst, als er bereits in dem riesigen Saal stand, bemerkte, dass seine Hände nicht mal gefesselt worden waren. Im Gegensatz zu der Flammen-Halle am Phönix-Hof war der Muschel-Saal viel mehr und auch extravaganter geschmückt. An den Wänden, von den Decken und sogar von den Statuen und Säulen hingen allerlei Tuchbahnen und funkelnde Ketten aus Perlen und Muscheln. In gewisser Weise passte das wohl zur Dul-Gilde, denn durch ihre Nähe zum Stillwasser-See bekam sie alles aus erster Hand und musste keine Tonnen von Geld für Perlmutt bezahlen. Ansonsten war der Muschel-Saal ähnlich aufgebaut. Eine kleine Treppe führte zu einem Tisch hoch, an dem Dul Nehmon und eine Frau saßen. Letztere kam eindeutig aus Ubria, was leicht an ihrer dunklen Haut zu erkennen war. Rin Verran hatte den Namen der Anführerin der Dul-Gilde zwar vergessen, aber er hatte schon von ihr gehört. Unter anderem, dass sie manchmal sehr kindlich sein und ungewöhnlich handeln konnte. Ihr Aussehen war schon merkwürdig genug. Trotzdem war sie für seinen Geschmack ziemlich hübsch, wenn auch viel zu freizügig. Nicht umsonst wurde sie oft einfach nur »Dahlie« genannt, obwohl viele behaupteten, das läge daran, dass diese Blume nur in Ubria wuchs. Jedenfalls war »Dahlie« der Name, unter dem Rin Verran sie kannte.
»Rin Verran«, sprach Dul Nehmon ihn sogleich an, nachdem dieser sich respektvoll vor ihm verbeugt hatte. »Die Gefangenschaft scheint dir weder schlecht noch gut getan zu haben.«
»Ich kann mich über nichts beschweren außer über die offensichtlichen Sachen«, antwortete Rin Verran. Seine Gedanken huschten wild hin und her. Hatte Yodha doch recht? Wird er mir einen Vorschlag bereiten und wenn ich ihn annehme, bin ich frei? Wie hat er das angestellt? Er kann doch nicht mit ihm geredet haben! Dann hätte er seine Maske und seine ganze Verkleidung abnehmen müssen! Aber wie dann? Er senkte seinen Blick zu Boden, als Dul Nehmon sich von seinem Platz erhob. Egal. Er hat noch nichts gesagt. Genauso gut könnte Yodha auch gelogen haben und ich werde jetzt ausgepeitscht oder sonst irgendwas. Vielleicht hätte ich doch fliehen sollen...
»Die offensichtlichen Sachen wären, dass die Rin-Gilde dich verstoßen hat«, sagte Dul Nehmon. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Und dass du so lange auf deine Strafe warten musstest. Dafür entschuldige ich mich.«
Warum entschuldigt er sich? Wenn ich gleich bestraft werde, ist es nur gut, dass er so lange gewartet hat. Warum eigentlich? Hat er überlegt, wie er mich am besten quälen kann? Ein entsetzlicher Gedanke stieg in ihm auf, bei dem sein ganzer Körper sich anspannte. Er hatte gehört, dass es Fälle gab, in denen Vergewaltigern... ein bestimmtes Körperteil abgeschnitten wurde. Ihm wurde so schlecht, dass er fast nach vorne stolperte, konnte sich aber gerade noch fangen.
Plötzlich legte eine schwere Hand sich auf seine Schulter. Rin Verran wäre fast zusammengezuckt, schaute hoch.
»Was du meiner Tochter angetan hast, ist unverzeihlich«, fuhr der Gilden-Anführer fort. »Und das wird sich auch nie ändern. Dennoch halten meine Frau und mich mehrere Sachen davon ab, dich so hart zu bestrafen, dass du danach zu nichts mehr zu gebrauchen bist.« Er warf einen Blick zu seiner Frau, die ihm aufmunternd zunickte. »Es gibt Bedingungen, an die dein Vater und deine Stiefmutter mich gebunden haben. Und auch ich habe Bedingungen gestellt. Der Verstoß aus der Rin-Gilde war eine davon.«
Rin Verran musste sich zusammenreißen, um nicht die Fäuste zu ballen und vollkommen ruhig zu bleiben. Das heißt, Vater hatte gar keine Wahl! Sonst wäre ich schon lange tot und tief unter der Erde begraben!
»Du bist jetzt gilden- und familienlos«, erklärte Dul Nehmon. »Das bringt dich in eine ungünstige Position. Du wirst nie wieder an Zatos-Meisterschaften teilnehmen können. Du wirst nie wieder so hoch angesehen sein wie zuvor und dein Herzstück – Habichtfeder, richtig? – wird zerstört werden. Ich nehme an, das willst du alles nicht? Das wird nämlich passieren, wenn ich dich bestraft und in ein abgelegenes Dorf geschickt habe, wo dich keiner kennt und du dich auf den Feldern krumm arbeitest, bis du irgendwann einsam und alleine stirbst.«
DU LIEST GERADE
Grüner Habicht und Roter Drache
AventuraBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...