Kapitel 102: Erinnerung - Teil 2

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Das System aus Höhlen und Tunneln war nicht so groß, wie Rin Verran zunächst angenommen hatte. Es gab den Gang, der von der Haupthöhle nach draußen führte, und dann noch zwei weitere. Der linke, aus dem Dia Nemesis zuvor aufgetaucht war, endete in einem großen Raum mit fünf Holzpritschen, die allem Anschein nach ohne viel handwerkliches Geschick zusammengebastelt worden waren. Auf zwei von ihnen lagen Menschen. Rin Verran konnte seine Überraschung nicht verbergen, als er tatsächlich die angebliche Prostituierte mit dem Muttermal unter dem rechten Auge erkannte. Sie war genauso lebendig wie Ghan Leddan und warf ihm einen flüchtigen Blick zu, als er eintrat.

»Va Dalja«, stellte Dia Nemesis die Frau kurz angebunden vor und deutete dann zu dem Mann, der sich auf einer der anderen Pritschen aufgesetzt hatte. Auf seinem Gesicht stand ein unauslöschliches Lächeln. »Jin Gajin.« Es gab keinen Zweifel daran, dass dieser Mann der Grinsegeist war. Er hatte sogar die zwei Dolche an seinem Gürtel nicht abgelegt.

»Ich grüße Euch«, sagte Jin Gajin in Rin Verrans Richtung und zeigte seine Zähne.

Rin Verran hatte den unerklärlichen Drang, den Mann anzulächeln, weil er fürchtete, dieser könnte ihm sonst eigenhändig ein Grinsen ins Gesicht ritzen, wie er es bei so vielen seiner Opfer getan hatte. Irgendwas an ihm fühlte sich einfach nur falsch an. Als hätte er seine Menschlichkeit abgelegt und wäre wirklich zu einem Geist geworden, dachte Rin Verran.

Auf dem Rückweg zur Haupthöhle führte Dia Nemesis ihn an einer Abzweigung vorbei, die vermutlich auch in einem Raum endete, aber den zeigte sie ihm nicht. Stattdessen bog sie in den rechten Tunnel ein. Links gab es eine kleine Höhle mit allerlei Glasgefäßen, aber auch getrocknetem Fleisch und Gemüse. Wahrscheinlich war das die Küche. Die zwei Gänge, die rechts vom Tunnel abzweigten, ignorierte Dia Nemesis vorerst und zeigte stattdessen nach ganz hinten.

»Dort befindet sich Mehn Wudus Höhle«, erklärte sie emotionslos. »Du wirst dort nur hingehen, wenn er es erlaubt.«

Rin Verran wagte nicht, zu widersprechen. Er fragte sich, wo Habichtfeder hingebracht worden war. Dia Nemesis war nicht in diese Richtung verschwunden, als sie sein Herzstück weggebracht hatte. Hatte sie es also in der Höhle am Ende des einen Gangs im linken Tunnel versteckt?

»Ich werde dir noch einen Ort zeigen«, meinte Dia Nemesis und drängte ihn zu einem der Gänge auf der rechten Seite, die sie bisher ignoriert hatte. Doch auf einmal ertönte ein lauter Schrei, der abrupt abbrach. Dann noch einer. Bei dem Geräusch fuhr Rin Verran ein eiskalter Schauer über den Rücken. Die Schreie hallten zu sehr von den Wänden wieder, aber er konnte mit Sicherheit sagen, dass sie aus dem letzten Gang kamen, zu dem noch nichts gesagt worden war.

»Wer ist das?«, fragte er, obwohl er die Antwort eigentlich schon wusste. Mehn Zairda, wer könnte es sonst sein?

Dia Nemesis antwortete nicht und schob ihn stattdessen grob in den Tunnel vor sich. Sie selbst blieb draußen stehen, die Arme verschränkt und das Gesicht eine neutrale Maske. Rin Verran ging den kurzen Gang entlang, bis er die Höhle betrat. Sie wirkte wie eine verkleinerte Version der Haupthöhle. Auch hier fehlte die Decke und helles Sonnenlicht fiel auf den Steinboden. An der hinteren Wand stand ein langer Tisch, auf dem drei aufrecht stehende Holztafeln platziert waren. Auf ihnen stand etwas.

Rin Verran trat näher, um die Schrift besser lesen zu können, doch im selben Moment bemerkte er Se Laf, die im Schatten einer der Wände saß. Wegen ihres schwarzen Gewandes hätte er sie beinahe übersehen. Die Frau kniete auf dem Boden und hielt einen Holzklotz in der Hand, den sie mit einem Messer bearbeitete. Ihm fiel sofort die Ähnlichkeit mit den drei Tafeln auf dem Tisch auf und da verstand er.

Das ist ein Friedhof. Oder sowas wie ein Schrein, um die Toten nicht zu vergessen. Und sie schnitzt die Totentafel ihres eigenen Bruders.

»Rafal war immer gut zu mir«, ertönte Se Lafs Stimme auf einmal, doch sie sah nicht von ihrer Arbeit auf. »Er hat sich um mich gekümmert. Nur ihm habe ich zu verdanken, dass ich jetzt noch am Leben bin.«

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt