Kapitel 92: Zuflucht - Teil 4

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Rin Verran fühlte sich so unwohl wie noch nie in seinem Leben. Er war umzingelt von Menschen, die ihn am liebsten tot sehen wollten. Ihre Blicke brannten sich bis tief in sein Innerstes und dass jeder von ihnen mindestens eine Waffe bei sich trug, machte es auch nicht besser. Er fürchtete, dass sie ihn einfach abstechen würden, sobald er einschlief. Zwar hatte Meister Jhe es verboten, aber er würde nicht wissen, wer genau es gewesen war, sodass er auch niemanden würde bestrafen können. Deshalb schwor Rin Verran sich, kein Auge zu zu tun und die ganze Nacht über wachsam zu sein. Doch schon nach der ersten Stunde schlief er übermüdet ein.

Geweckt wurde er dann von einem Schlag in sein Gesicht. Er fuhr hoch, noch im Halbschlaf, und griff reflexartig nach Habichtfeder neben sich. Aber das Schwert war nicht da und gleich darauf wurden seine Arme von zwei Personen ergriffen, die ihn grob auf die Beine hievten und festhielten. Rin Verran blinzelte und war nicht überrascht, Kar Moora zu sehen. Die junge Frau funkelte ihn wütend an und spielte mit dem Dolch herum, den sie ihm offenbar abgenommen hatte. Ghan Idos' Dolch.

»Du wirst bereuen, hierher gekommen zu sein!«, schleuderte sie ihm entgegen, ballte ihre Rechte zu einer Faust und schlug ihm damit erneut ins Gesicht. Rin Verran spürte, wie seine linke Wange bereits anzuschwellen begann. »Vielleicht stehst du unter Meister Jhes Schutz, aber solange wir dich nicht töten, dürfen wir alles Mögliche mit dir machen! Raus! Nach draußen! Na los!«

Rin Verran wurde von den zwei Männern, die ihm die Arme auf den Rücken verrenkten, aus dem Zelt gestoßen. Er stolperte vor ihnen her und konnte sich nicht bewegen ohne dass ihm Schmerzenswellen durch den Körper fuhren. Als er seine Beine dennoch gegen den Boden stemmte, verpasste Kar Moora ihm einen Hieb in die Seite, der ihn aufstöhnen ließ. Er war sich ziemlich sicher, dass sie damit seine Wunde wieder aufgebrochen hatte.

»Schau hin!«, befahl Kar Moora, als er irgendwo im Garten der Gämsen-Pagode auf den Boden gestoßen wurde. Er erkannte, dass er sich auf der Wiese befand, wo sie früher allerlei Spiele gespielt hatten. Jetzt war von der grünen Grasfläche jedoch nichts mehr zu sehen. Aus der Dunkelheit der Nacht schälten sich unförmige Steine. Grabsteine. Dicht nebeneinander. Auf einige waren sogar mehrere Namen gemeißelt.

Seine Augen weiteten sich. Sind das alles Krieger der Sonne? Die in den letzten Jahren hier gestorben sind? So viele?

»Schau hin!«, sagte Kar Moora nochmal, krallte ihre Finger in seine Haare und stieß seinen Kopf nach vorne, auf einen der Grabsteine zu. »Was steht da?«

Rin Verran wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich gegen sie zu wehren. Mit ihr waren nicht nur die zwei Männer gekommen, die ihn immer noch festhielten, sondern mindestens vier weitere Krieger der Sonne. Er konnte ihre Wut und ihren Hass in seinem Rücken deutlich spüren. Als hätte jemand ein helles Feuer entfacht, das nun über seine Haut leckte.

»Kar Leora und Kar Gudarf«, las er und fing sich eine Ohrfeige ein.

»Sie heißt Leona!«, fuhr Kar Moora ihn an. »Das sind meine Eltern! Sie sind bei deinem verfluchten Angriff gestorben, Grüner Habicht! Ich werde dir das nie verzeihen, aber vielleicht verzeihen sie dir ja! Nun mach schon! Entschuldige dich bei ihnen! Entschuldige dich vor den Toten!«

»Ich entschuldige mich bei euch«, presste Rin Verran hervor.

»Hört sich so eine aufrichtige Entschuldigung an?«, blaffte Kar Moora und riss seinen Kopf jetzt noch weiter nach vorne. Seine Stirn schlug schmerzhaft gegen den Stein, bevor sie auf der kalten Erde vor dem Grabstein landete. »Du musst vor ihnen knien! Vollständig! Dich vor ihnen in den Dreck werfen! Das ist es nämlich, wo du hingehörst! Abschaum!«

Rin Verran sog scharf die Luft ein. »Ich entschuldige mich bei euch!«, rief er lauter und schluckte dabei nasse Erdbrocken. »Ich entschuldige mich für euren Tod! Ich hätte den Angriff nicht anführen dürfen! Es tut mir leid!«

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt