Der frische Frühlingswind passte überhaupt nicht zu der Szene, die sich am Seerosen-Ufer abspielte. Etwa zwei Tage vor Beginn des Angriffs hatte ein Kundschafter Dul Nehmon gemeldet, dass die Erzwächter der Ghan-Gilde bereits in unmittelbarer Nähe waren. Daraufhin hatte er alle verbündeten Gilden zusammengerufen. Die meisten waren seinem Ruf gefolgt, doch es gab auch einige, die sich vor dem bevorstehenden Kampf fürchteten. Deren Gilden-Anführer meinten, dass es besser wäre, es gut mit der Ghan-Gilde zu halten, da sie sowieso gewinnen würde. Die Val-Gilde hatte nicht geantwortet.
So versammelten die Erzwächter der Dul-Gilde und ihrer Verbündeten sich im Forellen-Pavillon. Es wehten keine Banner, es gab keine geflüsterten Gespräche, nur ein angespanntes Warten. Warten auf den Sturm, der bald kommen würde. Wegen seiner Verletzung war es Paat Jero verboten worden, sich zu den anderen Erzwächtern zu gesellen. Daher blieb er als Leibwächter an Dul Nehmons Seite, die Hand locker auf dem Griff seines neuen Schwertes, aber trotzdem wachsam genug, um es jederzeit ziehen zu können.
»Weißt du«, flüsterte Dul Nehmon ihm auf einmal zu, »was mein Meister mir einst gesagt hat?«
»Dass du besser lernen sollst?«, fragte Paat Jero ohne den südlichen Horizont aus den Augen zu lassen. Dort hatten die feindlichen Truppen ihr Lager aufgeschlagen und bereiteten sich jetzt offenbar auf den Angriff vor.
»Nein.« Dul Nehmons Gesicht wurde ernst. »Er hat gesagt, dass ein Erzwächter nicht kämpft, weil er das hasst, was vor ihm ist, sondern weil er das liebt, was hinter ihm steht. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen uns und denen.« Er deutete zu der dunklen Linie aus Erzwächtern, die allmählich immer breiter wurde.
»Sie kommen«, sprach Paat Jero das Offensichtliche aus.
»Ja.« Dul Nehmon seufzte. »Hast du Caitha und Arcalla in Sicherheit gebracht?«
»Arcalla hat sich geweigert, mit ihrer Mutter zu gehen.«
Der Gilden-Anführer presste die Lippen fest zusammen.
»Sie hat gesagt, dass sie erst fliehen wird, wenn alles wirklich verloren ist. Das sei ihre Pflicht als deine Tochter.«
»Denkt sie, sie würde mir damit einen Gefallen tun?« Sein Blick huschte zum Nebengebäude, in dem Dul Arcallas Zimmer lagen und dann wieder zurück zu den nahenden Erzwächtern. Seine Augen weiteten sich und wurden dann hart. »Ist das Rin Verran?«
Bald übertönte das Klirren von Schwertern und das Kampfgeschrei von Männern und Frauen alle Gespräche. Klingen schnitten durch Fleisch, zerteilten Glieder, hinterließen Wunden, die kein Heiler mehr heilen könnte. Rin Verran erfuhr zum ersten Mal, was es bedeutete, ein echtes Schlachtfeld zu betreten. Er wollte das alles nicht hören, nicht sehen. Die leeren Augen, die zum Himmel starrten. Die blassen Gesichter. Den zerstampften Boden, der immer noch von schweren Stiefeln aufgewühlt wurde. Die Grashalme, von deren Spitzen rote Tropfen hingen. Die blutbesprenkelten Blütenblätter der Blumen am Ufer. Die Kerben im Holz der Gebäudebalken, wo ein Schwert entlang geschrammt war.
Der Forellen-Pavillon war sogar nach so einer kurzen Zeit nicht mehr wieder zu erkennen. Um ihn herum herrschte pures Chaos. Es knallte laut, als die Tür des Gebäudeteils aufflog, in dem Dul Arcalla ihre Räumlichkeiten hatte. Eine junge Frau, die er als Lai Zani erkannte, sprintete hinaus, während sie ihre Herrin hinter sich her zerrte. Sie stolperten mehrmals, während sie den Erzwächtern auswichen, die im Innenhof gegeneinander kämpften. Schwerter klirrten, Pfeile schwirrten. Weiter hinten, wo Dul Nehmon die Gruppe seiner treuesten Gilden-Anhänger anführte, schoss die Peitsche Elmsfeuer durch die Luft. Hinterließ rote Striemen, wo sie auf ungeschützte Haut traf. Schmerzensschreie. Dann ein Kreischen.
Rin Verran stieß den Erzwächter, gegen den er gerade kämpfte, mit einem wuchtigen Schlag zur Seite, sprang über die Leiche eines Dieners hinweg und rannte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Dul Arcalla. Eindeutig ihre Stimme. Ihr durfte nichts geschehen! Er durfte es nicht zulassen! Er würde es sich nie verzeihen!
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...