Wenige Tage später geschah eine Art Wunder. Der Anhänger der Ghan-Gilde, der im Taubenschlag des Krähen-Palastes arbeitete, erhielt einen Brief mit einer Krähenfeder als Siegel. In Windeseile trug er ihn zu Ghan Shedor. Die Nachricht kam von Ghan Leddan. Offenbar hatte er, wie einige vermutet hatten, wirklich noch weiter nach dem Lager der Drachenklauen gesucht, nachdem ihn in den Ruinen des Drachen-Heims eine Enttäuschung erwartet hatte. Nun, so schrieb er, sei er sich ziemlich sicher, dass die Dul-Gilde gemeinsame Sache mit den Drachenklauen mache. Es gäbe Berichte von Bauern und Fischern, die behaupteten, regelmäßig vermummte Gestalten zu sehen, die den Fluss nordwärts, auf den Stillwasser-See zu, fuhren. Außerdem habe der Angriff der Drachenklauen auf den Inseln der Dul-Gilde stattgefunden und nur Anhänger dieser Gilde konnten neben denen der Ghan-Gilde wissen, auf welcher der Inseln Ghan Kedron jagen würde. Alle Indizien deuteten darauf hin, dass die Dul-Gilde etwas mit den Drachenklauen zu tun hatte.
Rin Verran gehörte zu einem der ersten, der von diesem Brief erfuhr, und war bis ins tiefste Mark seiner Knochen geschockt. Ghan Leddan würde nicht lügen. Er ist ein vernünftiger Mann, ein Erzwächter. In gewissem Maße ergaben seine Informationen Sinn. Yodha hätte damals getrost lügen und nur behaupten können, er hätte erst später von Rin Verrans Situation erfahren. Dabei hatte er sie die ganze Zeit gekannt und ihn gezielt getäuscht, um die Aufmerksamkeit von der Dul-Gilde auf eine andere, weiter entfernte zu lenken. Dennoch ging es ihm nicht in den Kopf, dass ausgerechnet die Dul-Gilde angeblich mit den Drachenklauen zusammenarbeitete und sie vielleicht sogar beherbergte! Warum war ihm das nicht aufgefallen? Irgendwas stimmte nicht, aber er konnte nicht genau mit dem Finger darauf zeigen. Kurzzeitig kam ihm der Gedanke, dass der Brief von einer sehr dreisten Drachenklaue gefälscht sein könnte, aber dann hätte Ghan Shedor sofort gemerkt, dass dies nicht die Schrift seines Onkels war. Außerdem war das Siegel der Ghan-Gilde nicht so leicht zu fälschen.
Es lag zwar immer noch Schnee, aber Rin Verran wusste, dass Ghan Shedor früher oder später befehlen würde, die Dul-Gilde anzugreifen. Er dachte an Dul Nehmon und Dul Caitha, die wahrscheinlich ahnungslos im Forellen-Pavillon saßen und angeregt miteinander redeten, an Paat Jero, der vermutlich wieder mal Karten spielte, und natürlich an Dul Arcalla. Ich kann nicht zulassen, dass ihnen etwas passiert. Selbst wenn es stimmt, dass die Drachenklauen etwas mit der Dul-Gilde zu tun haben, die meisten ihrer Anhänger sind unschuldig! Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand von den Menschen, die er dort kannte, dazu fähig wären, einen Mord zu begehen.
Bevor er sich dazu entschloss, zu Ghan Shedor zu gehen, wollte er jedoch zuerst mit Ghan Edhor reden. Der junge Mann war mindestens genauso geschockt. »Leddan würde uns nicht anlügen«, sagte er. »Es muss etwas an dieser Information dran sein. Denk auch daran, was wir an deinem ersten Tag hier besprochen haben. Die Sache mit Yodha...«
»Ghan Shedor darf die Dul-Gilde nicht angreifen!«, presste Rin Verran hervor. »Ich habe schon tatenlos zugesehen, wie der Phönix-Hof zerstört wurde! Sowas wird nicht nochmal passieren!«
»Und was willst du dagegen tun?«, fragte Ghan Edhor. »Mit Shedor reden? Du weißt, dass man ihn nicht mehr zur Vernunft bringen kann! Und denk daran, dass deine Frau aus der Dul-Gilde stammt! Im schlimmsten Fall passiert mit ihr genau das gleiche wie mit deiner Schwester, als der Phönix-Hof erobert wurde! Vielleicht wird Shedor das bei deiner Veyvey nicht tun, weil sie sich um deine Tochter kümmern muss, aber du kannst dir nie sicher sein!«
Rin Verran presste die Kiefer zusammen, während Ghan Edhor fortfuhr: »Mir gefällt es genauso wenig, dass es sich so ergeben hat, aber ich vertraue meinem Onkel. Wenn er sagt, dass die Dul-Gilde etwas mit den Drachenklauen zu tun hat, dann muss das wohl so sein. Bevor du etwas Unbedachtes tust, solltest du aber zuerst abwarten, was Dul Nehmon antwortet. Ghan Shedor hat ihm bereits einen Brief geschrieben. Die Antwort sollte irgendwann nächste Woche kommen.«
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Grüner Habicht und Roter Drache
DobrodružnéBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...