Kapitel 70: Wissen - Teil 1

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Rin Verran schlug das Tagebuch so heftig zu, dass der Staub auf der Fensterbank in die Luft stieg. Er konnte nicht fassen, was er soeben gelesen hatte. Das Entsetzen war mit jedem weiteren Satz, mit jedem weiteren Wort gewachsen. Ghan Shedor und Ghan Minue. Halbgeschwister. Ihr Sohn Ghan Irvan. Inzest. Wie hatten Mahr Ledja und Ghan Ilana das zulassen können? Wie hatte irgendjemand das zulassen können? Dabei hielt er das Schriftstück in den Händen, das ihm die Antwort darauf bereits geliefert hatte.

Was würde passieren, wenn das öffentlich wird?, fuhr es Rin Verran durch den Kopf. Niemand konnte das genau vorhersehen. Aber die Gilden-Anführer würden der Verachtung und dem Ekel der Leute auf jeden Fall nicht entkommen können. Sie wussten es ja nicht mal selbst. Und Ghan Irvan? Welcher Spott würde ihn erwarten? Andererseits... Die Ghan-Gilde hatte schon so vieles getan, was Rin Verran nicht akzeptieren konnte, nicht akzeptieren wollte. Wer konnte wissen, was Ghan Shedor jetzt, in diesem Augenblick noch alles plante. Immerhin war die Gefahr durch die Aufständischen – die Krieger der Sonne – trotz der Eröffnung des Rothirsch-Turms immer noch nicht gebannt. Wie viele Menschen würden noch auf seinen Befehl hin sterben?

Was vielleicht noch wichtiger war, war jedoch Dalja, die Mahr Ledja in ihrem Tagebuch erwähnt hatte. Eben jene Dalja, jene Tänzerin und Prostituierte, die laut Lew Amon vor etwa zwei Jahren gestorben war. Also war sie wirklich die Mutter dieses Jungen, den sie einst in den Rothirsch-Turm gebracht hatte, nur, um dort von Mahr Hefay abgewiesen zu werden. Es gab keinen Zweifel daran, dass dieser Junge Mahr Yuzhu war. Und er war nicht von Mahr Hefay geschickt worden, um Ghan Minue zu töten, sondern vermutlich von Dalja, nachdem diese den schwarzen Falken mit dem Band von Mahr Ledja erhalten hatte. Dieses Band wiederum... Rot mit orangenen Flammenmustern. Das waren die Farben der Mehn-Gilde. Und der Beweis dafür, dass die Drachenklauen wirklich Nachkommen der Mehn-Gilde waren und nun Rache an allen Gilden suchten, die damals für die Auslöschung verantwortlich waren.

Rin Verran zählte im Kopf durch. Dalja gehörte zu ihnen. Ihr Sohn Mahr Yuzhu. Yodha. Brandfuchs, der Mann, den er auf den Inseln getötet hatte. Der Grinsegeist. Steinherz, die Frau mit dem Breitschwert und die Bogenschützin. Die Motte mit dem Schleier des Vergessens. Das machte sieben.

Die Drachenklauen haben diesen Krieg ausgelöst, dachte Rin Verran. Mit voller Absicht. Sie haben manipuliert, gemordet und niedergebrannt. Was wollen sie noch? Was wollen sie von mir?

Schritte auf dem Flur rissen ihn aus seinen Gedanken. Hastig stürzte er zum Schrank und schob das Tagebuch bis ganz nach hinten, bevor er sich zurück auf den Stuhl setzte. Gerade noch rechtzeitig, denn keine Sekunde später kam Rin Veyvey herein, die Rin Kahna an der Hand führte. Seine Tochter grinste fröhlich und lief mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.

»Papa!«

Rin Verran konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und schloss sie in seine Arme. »Hast du schön gespielt?«

Rin Kahna nickte eifrig mit dem Kopf. »Ich hab eine Burg gebaut! Ganz groß! Und Prinzessin Lala war auch da!« Sie hielt ihre Puppe hoch. »Lala wollte ein Pferd, aber es gab keins.«

»Mama kann nicht so schnell nähen«, sagte Rin Veyvey, die sich offenbar schwer darum bemühte, gute Laune zu haben. »Bestimmt bist du jetzt müde. Komm, Kahna. Du musst dich noch waschen und dann gehst du schlafen.«

»Bin nicht müde!«

»Es ist schon dunkel draußen und du solltest wirklich schlafen«, widersprach Rin Veyvey.

»Geh mit deiner Mama, ja?« Rin Verran strich seiner Tochter liebevoll über den Kopf und schob sie dann vorsichtig rüber zu Rin Veyvey. »Wenn sie sagt, dass du schlafen solltest, dann solltest du schlafen.«

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt