Bevor Rin Verrans Faust Yodha treffen konnte, trat dieser einen Schritt nach hinten und wich so dem Hieb aus. Schmerz schoss durch Rin Verrans Knöchel, als er sie sich am hölzernen Türrahmen blutig schlug. Aber das war ihm egal. Er hatte geschworen, diesen Mann zu töten, wenn er ihm das nächste Mal begegnete und nun war Yodha hier. In dem Haus, in dem er zuvor zwei unschuldige Menschen ermordet hatte.
»Ich würde mir genau überlegen, was du jetzt tust«, erklang die gedämpfte Stimme hinter der Maske und ein schimmerndes Schwert erschien in Yodhas Hand. Es war das erste Mal, dass Rin Verran ihn mit einer Waffe sah und das erste Mal, dass er selbst keine hatte. Innerlich fluchend wich er ein Stück zurück, als die funkelnde Spitze sich auf seine Brust richtete.
»Ich werde dich töten«, presste er hervor und bewegte sich langsam in Richtung des Schranks, in dem He Kenje die Küchenmesser aufbewahrte. Aber Yodha war nicht dumm. Die Klinge wanderte auf die linke Seite von Rin Verrans Oberkörper und versperrte ihm so den Weg zum Schrank.
»Das bezweifle ich«, sagte Yodha so ruhig als würden sie ein gewöhnliches Gespräch führen. »Du wirst...«
Yodha brach ab, als Rin Verran plötzlich nach vorne schoss. Er packte den rechten Unterarm des Mörders und drückte ihn zusammen mit dem Schwert zur Seite. Gleichzeitig hielt er Yodhas linken Arm fest und hakte sich mit dem Fuß an seinem Unterschenkel fest, zog. Krachend fielen beide Männer zu Boden, wobei Yodha es irgendwie schaffte, sich noch auf die Seite zu drehen, wobei er einen seiner Arme losriss. Rin Verran versuchte, ihn wieder zu packen, doch vergebens. Ein heftiger Schlag schleuderte ihn nach hinten. Es folgte ein Tritt gegen sein Knie, bei dem er vor Schmerzen stöhnte und zusammenbrach.
Nicht weit von ihm entfernt lag das Schwert, das Yodhas Hand beim Sturz entglitten war. Er streckte sich danach aus, doch kurz bevor seine Finger den Griff berühren konnten, wurde er am Kragen seines Hemdes hoch gezogen. Yodha rammte ihm das Knie in den Bauch und ließ ihn dann wieder los. Keuchend blieb Rin Verran liegen, schnappte nach Luft und krümmte sich vor Schmerzen, während zwei schwarze Stiefel vor ihm hin und her gingen. Es klirrte leise, als das Schwert aufgehoben wurde.
»Du wirst«, fuhr Yodha fort als wäre nichts passiert, »mir zuerst zuhören. Bei unseren vorherigen Begegnungen habe ich darauf verzichtet, dich mit Gewalt zu etwas zu drängen, aber mittlerweile hat sich so einiges geändert. Die Figuren haben sich bewegt. Andere Figuren, die vorher aus dem Spiel waren, sind wieder aufgetaucht. Wie hast du überlebt, Rin Verran?«
Stöhnend hob Rin Verran den Kopf und sah zu Yodha auf. Die Maske war kein bisschen verrutscht. Die Kapuze auch nicht. Selbst als sie am Boden gerangelt hatten, hatte er keinen Blick auf sein wahres Gesicht oder seine Haare werfen können. Vermutlich war er unter dieser Maske noch zusätzlich schwarz vermummt. Und diese Stimme... Er konnte sie noch immer niemandem zuordnen.
»Warum hast du sie getötet?«, keuchte Rin Verran. »Sie waren unschuldig.«
»Sie hätten unser Gespräch gestört und zu viele Fragen gestellt. Ich habe sie aus Notwendigkeit getötet«, sagte Yodha unbeeindruckt.
»Die Leute im Echsen-Tempel auch?« Jetzt, wo er He Baltabeks und He Kenjes Leichen gesehen hatte, war er sich sicher, dass der maskierte Mann auch für das Massaker dort verantwortlich war.
»Ja«, bestätigte Yodha. »Wenn auch aus anderen Gründen.«
»Kein Grund rechtfertigt einen Mord!« Mit Mühe gelang es Rin Verran, wieder auf die Beine zu kommen. Das Knie, gegen das er den Tritt bekommen hatte, gab leicht nach. Er musste sich an der Wand abstützen, den Schmerz aushalten. »Ich weiß bereits, dass du zu den Drachenklauen gehörst, die wiederum die letzten Überlebenden der Mehn-Gilde sind. Ihr sucht Rache für das, was die anderen Gilden euch damals angetan haben und wollt, dass sie dasselbe spüren, wie ihr damals. Dafür geht ihr sogar über die Leichen unschuldiger Menschen. Ich frage mich nur, was zum Henker ihr von mir wollt!« Die letzten Worte brüllte er hinaus.
»Deine Unterstützung«, sagte Yodha und hielt das Schwert wieder zwischen ihn und den Schrank. »Gehörte deine Mutter nicht auch zur Mehn-Gilde? Es ist deine Pflicht, sie zu rächen. Das habe ich dir bereits bei unserer letzten Begegnung gesagt. Du erinnerst dich?«
»Meine Mutter hat versucht, mich direkt nach meiner Geburt umzubringen«, presste Rin Verran hervor. »Ich kenne sie nicht. Ich weiß nicht, was sie für ein Mensch war. Rin Baleron und Rin Narema haben mich aufgezogen und Jadna und Raelin sind mit mir aufgewachsen. Es gibt nichts außer meinem Blut, das mich mit euch verbindet! Warum sollte ich für eine Sache kämpfen, in der ich mich gegen all jene stelle, die mir etwas bedeuten? Lasst mich einfach in Ruhe!«
»Hast du deine Familie nicht ohnehin schon verraten?«, hakte Yodha nach. »Wirst du dich jetzt auch von der Gilde deiner Mutter abwenden?«
»Ja!«, schrie Rin Verran und packte die Klinge des Schwertes fest mit beiden Händen. Das Metall schnitt ihm in die Haut, Blut quoll hervor, aber er ließ nicht los. Nicht mal dann, als Yodha das Schwert zu sich zog. Die Klinge schnitt Rin Verran ins Fleisch, während er es mit aller Kraft nach hinten riss. Er wusste nicht, wie seine Hände aussehen würden, wenn es vorbei war. Er wusste nicht, ob er noch alle Finger haben würde, aber er war entschlossen, diesem maskierten Mann seine Waffe zu entreißen.
Yodha stieß einen frustrierten Schrei aus, packte das Schwert mit beiden Händen und bewegte es ruckartig nach oben. Rin Verran spürte, wie die Klinge noch tiefer in sein Fleisch schnitt und ließ sie reflexartig los. Mit vor Wut blitzenden Augen stürzte er wieder nach vorne. Aus dem Augenwinkel sah er das Schwert erneut auf sich zu kommen. Er musste sich ducken. Dabei gab sein Knie nach. Er knickte um, konnte sich nicht mehr halten und fiel auf die Seite. Sein Blick legte sich auf seine blutverschmierten Hände, bevor er die Spitze der Klinge direkt vor seinem Gesicht sah.
»Das hättest du nicht tun sollen«, ertönte Yodhas Stimme dumpf von oben. »Habe ich dir nicht schon viele Male geholfen? Habe versucht, dir deine Wünsche zu erfüllen? Dein Platz ist nicht hier, in dieser staubigen Bauernhütte, sondern zusammen mit der Gilde deiner Mutter auf dem Pfad der Rache und der Gerechtigkeit. Die Gilden haben vergessen, was sie damals getan haben. Haben vergessen, dass sie im Unrecht waren. Haben die Wahrheit vergessen. Wir werden diese Wahrheit aufdecken. Und ich frage dich ein letztes Mal: Wirst du dich uns anschließen?«
»Niemals!«
Rin Verran erwartete kaltes Eisen an seiner Kehle zu spüren, doch das war nicht der Fall. Stattdessen seufzte Yodha fast schon traurig. Er hockte sich vor ihm hin, die Schwertspitze immer noch auf sein Gesicht gerichtet. Mit der anderen Hand fummelte er an seinem Gürtel herum und holte schließlich etwas hervor, bei dessen Anblick sich Rin Verrans Augen weiteten. Ein Stoffband. Rot mit orangenen Flammen.
»Ich war mir nicht sicher, ob du weißt, was dieses Band bedeutet, aber deiner Reaktion nach weißt du es anscheinend«, sagte Yodha. »Wenn ein schwarzer Falke mit diesem Band losgeschickt wird, wird jemand sterben. Hast du den schwarzen Falken draußen gesehen, Rin Verran? Ich werde ihn heute noch los schicken. Vielleicht wirst du deine Meinung ja ändern, wenn du die Leiche deiner Schwester siehst.«
»Nein!« Rin Verran wusste nicht, woher er die Kraft nahm. Er fuhr hoch, spürte, wie die scharfe Klinge ihm die Wange knapp unter dem Auge aufschnitt, und warf sich auf Yodha. Doch der war sofort auf den Beinen und trat ihm gegen die Brust, bevor Rin Verrans Finger auch nur in die Nähe seiner Maske kamen. Für einen schrecklichen Moment bekam er keine Luft mehr. Dann stellte Yodha ihm einen Stiefel auf die Brust, den anderen auf seinen linken Arm und hielt seinen rechten auch noch fest. Das Schwert hielt er dicht an seine Kehle.
»Es hätte nicht so weit kommen müssen«, meinte Yodha. »Aber ich bin nicht grausam. Nur gerecht. Ich gebe dir eine Chance, deine geliebte Schwester zu retten. Sie wohnt in einem abgelegenen Haus in der Nähe von Tasaan. Das Dorf kennst du doch? Du musst nur schneller als mein Falke sein.«
Rin Verran spürte eine heftige Panik in sich aufsteigen. »Nicht... Jadna...«, presste er hervor, doch seine Stimme war so leise, dass Yodha es wahrscheinlich nicht hörte.
»Wenn du deine Meinung änderst, dann komm zu dem Ort, wo wir dich einst treffen wollten.«
Während Rin Verran noch versuchte, seine letzten Kräfte zu sammeln, um den Mann von sich zu stoßen, zog Yodha sein Schwert weg und hämmerte den Griff gegen Rin Verrans Schläfe.
Alles wurde schwarz.
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Fffffffffffffffffffff*ck
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Grüner Habicht und Roter Drache
MaceraBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...