Kapitel 115: Wahrheit - Teil 1

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Es dauerte nicht lange, bis Mehn Wudu die Schieferplatte wieder entfernte, damit sie hinab in die Versammlungshalle sehen konnten, die sich allmählich mit Menschen füllte. Noch waren es vor allem Anhänger von kleineren Gilden und Erzwächter, die Rin Verran nicht kannte. Wie erwartet setzten sie sich auch an Tische, die weiter entfernt von dem des Gastgebers waren. Von Ghan Leddan und Sun Shimei war noch nichts zu sehen.

Rin Verran wunderte sich jedoch, als ein Pärchen die Versammlungshalle betrat, das er sehr wohl kannte. Eine Mischung aus Mitleid und Ekel stieg in ihm auf, als Mahr Lesara, die jetzt wahrscheinlich einen anderen Nachnamen hatte, mit ihrem Ehemann zu einem der Tische in der vordersten Reihe ging. Sie wirkte wie eine gebrochene Frau, hatte den Blick fest auf den Boden vor sich gerichtet. Oder vielleicht auch auf ihren Bauch, der sich schon ziemlich stark über dem ungeborenen Kind wölbte. Rechts neben ihr, eine Hand herrisch auf ihrem Hintern platziert, schlurfte ihr Ehemann.

Es gibt wohl doch Menschen, die es schlechter haben als ich, dachte Rin Verran. Auch wenn das eher ein schwacher Trost war.

Als er zur Seite blickte, um nicht sehen zu müssen, wie der um einiges ältere Mann Mahr Lesara dazu zwang, sich auf seinen Schoß zu setzen, begegnete er Va Daljas Blick, die sich das offenbar auch nicht antun wollte. Sie presste die Lippen fest zusammen. Wahrscheinlich erinnerte das Schicksal der jungen Frau sie an ihren eigenen Sohn, denn beide waren uneheliche Kinder von Mahr Hefay.

Die nächsten Personen, die Rin Verran kannte, waren welche, denen er am liebsten gleich zurufen würde, dass er noch lebte. Dass er hier war. Dass sie bitte nicht hier sein sollten, sondern woanders, um nicht in Gefahr zu sein. Dul Arcalla schob Ghan Edhor in seinem Rollstuhl vor sich her und redete mit ihm über etwas, was Rin Verran vom Dach aus jedoch nicht verstehen konnte. Sie lachte und strich sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie sah um einiges besser und gesünder aus als damals im Kerker des Rothirsch-Turms. Und sie war... frei? Irgendwas sagte Rin Verran, dass sie das Ghan Edhor zu verdanken hatte, und rief dem jungen Mann in Gedanken tausend Dankesworte zu.

Eine neue Gestalt riss ihn aus seinen Gedanken. Im ersten Moment dachte er, Se Laf wäre irgendwie in die Versammlungshalle runtergestiegen und würde jetzt auf Dul Arcalla zugehen, aber das war natürlich unmöglich. Die Motte saß mit ihm zusammen auf dem Dach. Also gab es nur eine Möglichkeit, wer sich unter dieser Trauerkleidung verstecken konnte. Rin Veyvey. Jetzt, wo er es wusste, konnte er es nicht mehr übersehen. Ihr stolzierender Gang war unverwechselbar. Sie blieb kurz neben ihrer Schwester stehen und wechselte einige Worte mit ihr, bevor sie sich an einen der freien Tische setzte. Wie aus dem Nichts tauchte ihre Dienerin Lai Vatani  neben ihr auf und schenkte ihr ein Glas ein.

Wo ist Kahna?, wollte Rin Verran wissen, obwohl er wusste, dass seine Tochter wahrscheinlich nicht kommen würde. Das war auch besser so angesichts dessen, was bald passieren würde.

Die Gespräche unten waren immer lauter geworden, sodass er kaum einzelne Stimmen heraushören konnte. Es war unmöglich zu sagen, ob er noch weitere Personen kannte oder nicht. Mit Ausnahme von Wrun Lilath, die er zufällig in einer Ecke der Versammlungshalle entdeckte. Er hatte keine Ahnung, wann sie eingetroffen war, aber es war sie. Zweifellos. Das hoch erhobene Kinn mit dem scharfen, herausfordernden Blick, die langen Ärmel, der hohe Kragen und nicht zuletzt die Handschuhe, die ihre Brandnarben verdeckten.

Mit einem Mal wurde es vollkommen still. Alle Blicke wandten sich dem Tor zu, aus dem eine Reihe an Erzwächtern heraustrat. Einige von ihnen erkannte Rin Verran vom Kampf um die Gämsen-Pagode wieder. Andere waren ihm vollkommen fremd. Doch die beiden Männer, die vorne gingen, konnte er nicht vergessen. Wez Yumaton, dessen finsterer Blick anscheinend für die plötzliche Stille verantwortlich war. Und Rin Raelin. Natürlich Rin Raelin in seinem schwarzen Gewand mit den gelben Flammen. Der Saum seines Waffenrocks flatterte genau so, dass es aussah, als würde er wirklich brennen. An seinem Gürtel hing Roter Phönix.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt