Kapitel 84: Staub - Teil 3

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»Warte hier.«

Rin Verran stieg vom Wagen, den er bereits in die Scheune gerollt hatte, und ging nochmal nach draußen. Er sah sich nicht nach hinten um, um zu sehen, ob Rin Narema wirklich wartete. Seine rechte Hand umfasste das Gefäß mit der Medizin. Er hatte sich zu viel Zeit gelassen. He Kenje fragte sich bestimmt schon, wo er geblieben war.

Als er an die Tür klopfte und dann eintrat, brannte im Schlafzimmer des Ehepaares immer noch Licht. He Kenje war trotz der späten Stunde wach und saß mit besorgtem Gesicht neben dem Bett, in dem He Baltabek lag, offenbar schlief. Zum Glück hob und senkte seine Brust sich noch, wenn auch unregelmäßig und mit einem unangenehmen Rasseln.

»Du bist zurück«, sagte die Frau leise. Als sie sich zu Rin Verran umdrehte, riss sie erschrocken die Augen auf. »Was ist passiert?«

»Hm?« Rin Verran verstand nicht, was sie meinte und trat stattdessen zu ihr, um ihr das Gefäß in die knochige Hand zu drücken. »Ich habe dieselbe Medizin geholt. Es gab keine andere. Genauer gesagt keine andere, die wir uns leisten können.«

He Kenje stellte das Gefäß auf der Fensterbank ab und winkte ihn dann zu sich. »Komm. Was ist mit dir passiert?«

»Nichts«, log Rin Verran.

»Nichts?« Die alte Frau schüttelte ungläubig den Kopf. »Ai, du hast Würgemale an deinem Hals, junger Mann.«

Reflexartig schoss seine Hand hoch. Er hatte vergessen, dass sie wahrscheinlich zu sehen sein würden. Verlegen rückte er seinen Kragen zurecht. »Es ist nichts. Nur ein Missverständnis.«

He Kenje blickte ihn ausdruckslos an, aber Rin Verran wusste, dass sie ihm wahrscheinlich nicht glaubte. Dennoch nickte sie langsam, fast schon traurig, und wandte sich wieder He Baltabek zu, hielt seine Hand. »Wenn du Hunger hast: In der Küche ist noch etwas Brei übrig. Baltabek hat es nicht gegessen.« Sie seufzte und schloss die Augen. »Hoffen wir, dass es ihm bald besser geht.«

Rin Verran fühlte einen Kloß im Hals. Es wird ihm nicht besser gehen, wenn er keine bessere Medizin bekommt. Aber wir haben kein Geld und ich kann nicht einfach einen Laden überfallen.

In der Küche schaufelte er mehrere Löffel des Breis in einen Teller, nahm noch eine Flasche Milch mit und ging dann zurück zur Scheune. Als er eintrat, stand Rin Narema neben der Leiter, die nach oben führte. Sie klammerte sich mit den Händen an den Sprossen fest, die Finger so stark gekrümmt, dass die Knöchel weiß hervortraten. In ihrem Gesicht zeigte sich ein Schmerz, den Rin Verran nicht richtig deuten konnte. Lag es an ihren Beinen? Lag es an dem Hunger? Oder war es etwas anderes?

»Ich habe noch mehr zu essen«, sagte er und riss Rin Narema damit aus ihrer Starre.

Langsam drehte sie sich zu ihm um. Ihr Blick wirkte abwesend, wanderte über sein Gesicht, als würde sie ihn nicht erkennen, und blieb an dem Teller und der Flasche in seinen Händen hängen. Sie blinzelte und auf einmal war der seltsame Ausdruck verschwunden. Stattdessen zog sie die Augenbrauen zusammen, sodass sich eine steile Falte auf ihrer Stirn bildete.

»Du hast ihnen nicht gesagt, dass ich hier bin, oder?«

»Nein«, antwortete er ehrlich. »Ich werde es morgen früh machen.«

»Damit ich wenigstens eine Nacht ruhig durchschlafen kann, bevor sie mich davonjagen?«

»Das werden sie nicht tun.« Rin Verran hoffte, dass er damit recht hatte. »Sie haben gesagt, dass sie jedem in Not helfen würden.«

»Das sagen viele und am Ende hält sich keiner dran«, zischte Rin Narema und krallte sich wieder an die Sprossen der Leiter. »Hilf mir hoch. Ich schaffe das nicht alleine.«

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt