Es war so früh, dass die Sonne noch nicht mal über den Berggipfeln aufgestiegen war. Das Tal war in dunkle Schatten getaucht. Rin Verran hatte nicht vor, mit einer großen Verabschiedung abzureisen. Er hatte die gesamte Nacht im Kerker bei Dul Arcalla verbracht, erinnerte sich noch viel zu gut an ihren warmen Körper dicht an seinem. Und an ihre Augen, die ihn danach liebevoll und traurig zugleich angesehen hatten, während sie ihm über die Haare gestrichen hatte.
»Ich weiß, dass ich nicht von dir verlangen kann, wiederzukommen«, hatte sie gesagt. »Ich weiß, dass du eine Entscheidung treffen werden musst und ich möchte nicht, dass du an ihr zerbrichst. Aber ich sage dir trotzdem: Komm wieder.«
Dann waren sie Seite an Seite eingeschlafen und Dul Arcalla hatte ihn geweckt, damit er sich anzog und den Kerker verließ, bevor irgendjemand nachfragen konnte, wo er denn in dieser Nacht gewesen war. Sein ganzer Körper schmerzte und wahrscheinlich waren auch blaue Ringe unter seinen Augen. Weder Rin Veyvey noch Rin Kahna oder irgendwer sonst sollte ihn in so einem Zustand sehen. Er wüsste ohnehin nicht, was er sagen oder wie er sich verhalten sollte. Ich bin ein Narr, ein verdammter, verdammter Narr. Ein Scheiß-Narr. Ein verfluchter...
Als er innerlich schimpfend den Rothirsch-Turm verließ, ging er direkt zum Stall und holte den grauen Hengst heraus, um ihn zu putzen und zu satteln. Er hatte ihn noch nicht lange. Einer der Arbeiter hatte ihn ihm als Dank für die Mithilfe geschenkt. Sein Name war Mondfleck, da über seinen Nüstern ein heller, runder Fleck prangte. Gerade führte Rin Verran Mondfleck gesattelt und aufgezäumt heraus, als auch schon Mahr Xero ankam. Falls er Rin Verrans Zustand bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken, sondern holte wortlos sein eigenes Pferd.
»Meister Mahr!«, ertönte auf einmal die Stimme eines Mädchens aus Richtung des Schülerhauses.
Überrascht bemerkte Rin Verran, wie Jhe Seyla auf Mahr Xero zu rannte, der gerade mit einer braunen Stute aus dem Stall kam und bei ihrem Anblick ein wenig begeistertes Gesicht machte. Das Mädchen blieb in respektvollem Abstand zu ihm stehen und verbeugte sich, sagte etwas. Rin Verran konnte nicht verstehen, worum es genau ging. Er hoffte einfach nur, dass das Gespräch möglichst schnell vorbei sein würde, damit sie aufbrechen konnten. Umso überraschter war er, als Mahr Xero offenbar mehrmals versuchte, das Mädchen wegzuscheuchen, sie aber beharrlich bei ihm blieb. Auf einmal stürzte Jhe Seyla sogar nach vorne und umarmte ihn. Weinte sie etwa? Mahr Xero hatte die Fäuste geballt, schob das Mädchen fast schon gewaltsam von sich weg und stieg überhastig auf sein Pferd auf.
Rin Verran seufzte, stieg ebenfalls auf Mondfleck und trieb den Hengst leicht an. Als er an Jhe Seyla vorbei kam, bemerkte er ihre geröteten Augen. Sie hatte sich kein Stück von der Stelle bewegt, starrte Mahr Xero nur hinterher, der gerade hinter der Holztribüne verschwand. Rin Verran verzichtete darauf, sie zu fragen, ob alles in Ordnung war. Es geht mich nichts an.
Den ganzen Weg den Berg hinunter sprach er kein Wort mit Mahr Xero. Dieser ritt sowieso so weit vorne, dass praktisch nur eine Staubwolke zu sehen war. Wahrscheinlich haderte er immer noch mit seiner Entscheidung, zum Krähen-Palast mitzukommen, aber er machte auch keine Anstalten, wieder umzukehren. Oder war er womöglich darauf gekommen, was in dieser Nacht passiert war? Nein, unmöglich. Rin Verran wollte eigentlich leise lächeln, aber aus irgendeinem Grund verweigerten seine Lippen ihm diesen Gefallen. Stattdessen fühlte er sich schlecht, einfach nur schlecht. Mit jeder Sekunde wurde ihm übler. Er ertappte sich sogar bei dem Gedanken, ob die Nacht mit Dul Arcalla ein Fehler gewesen war. Doch er traute sich nicht, sie zu beantworten.
Zum späten Nachmittag hin erreichten sie den Fuß des Gebirges. Mahr Xero war schon vor einiger Zeit angehalten und hatte auf Rin Verran gewartet. »Wir rasten hier«, bestimmte er. »Am besten verbringen wir hier auch die Nacht.«
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Grüner Habicht und Roter Drache
PrzygodoweBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...