Sun Shimei fühlte sich in seinen Armen viel zu leicht an. Rin Verran ließ ihn erst zu Boden gleiten, als sie den Krähen-Palast durch das Haupttor verlassen und hinter der schwarzen Mauer Schutz gesucht hatten. Kar Moora war sofort an seiner Seite und stieß ihn weg. Sie hatte offenbar geweint und hatte versucht, sich die Tränen mit ihren blutigen Händen wegzuwischen. Jetzt zogen sich rote Streifen über ihre Wangen und ihr Kinn.
»Du hättest ihn nicht hierher schicken dürfen«, zischte sie mit unterdrücktem Zorn, sah ihn aber nicht an. »Er hat sich darauf eingelassen wie auf ein Abenteuer, aber alle verdammten Abenteuer enden mit dem Tod von jemandem.«
»Ich hätte schneller bei ihm sein müssen.«
»Und warum warst du es nicht, du Nichtsnutz!«
Rin Verran presste die Kiefer fest zusammen. Die Erzwächterin, die ihn aufgehalten hatte, war tot. Genauso wie der Erzwächter nach ihr. Und trotzdem war er zu spät gekommen. Zu spät, um Sun Shimei vor Dia Nemesis' Rache zu retten. Der Knoten in seiner Brust zog sich noch fester zusammen, während er zum Krähen-Palast hinter der hohen Mauer sah. Grelle Flammen schlugen bereits gen Himmel, aber immer noch strömten Menschen durch das Tor nach draußen. Er hoffte, dass einer von ihnen wenigstens Rin Veyveys Leiche mitnehmen würde, aber er wusste, dass niemand sich mehr freiwillig in die Versammlungshalle begeben würde.
Wo ist Kahna? Wo sind Arcalla und Ghan Edhor? Mit den Augen suchte er in der flüchtenden Menge nach diesen bekannten Gestalten, sah sie jedoch nicht. Eine leichte Panik kam in ihm auf und er ging auf das Tor zu, wurde jedoch von jemandem am Arm festgehalten.
»Wo gehst du hin?«, fragte Meister Jhe. Er hatte Weißer Habicht immer noch gezogen, während Schwarzer Falke wieder in der Scheide steckte. Von der Spitze der hellen Klinge tropfte immer noch Blut. Rin Verran hatte keine Ahnung, wie sein Kampf gegen Wez Yumaton ausgegangen war, aber offenbar war der finstere Leibwächter wenigstens verletzt worden.
»Es haben noch nicht alle den Krähen-Palast verlassen«, meinte Rin Verran. »Was, wenn jemand nicht aus seinem Zimmer kann, weil die Flammen ihm den Weg versperren?«
»Das ist nicht deine Aufgabe.« Meister Jhe warf einen Seitenblick zu den Anhängern der Ghan-Gilde. »Viele hier haben noch nicht ganz verstanden, was vorgefallen ist. Sie suchen einen Schuldigen und ich weiß nicht, ob ihnen die Drachenklauen reichen. Wenn du jetzt da rein gehst, kann es gut sein, dass du nicht wieder raus kommst.«
Rin Verran riss sich von seinem Meister los, blieb aber stehen. Erst jetzt fielen ihm die Erzwächter auf, die ganz in der Nähe standen und ihre Waffen leicht in seine Richtung gerichtet hatten. Fah Zaromo war unter ihnen und er war auch der einzige, der ihm unauffällig zunickte. Rin Raelin war nicht da. Er war verschwunden. Wohin auch immer.
Weiter hinten, zwischen mehreren Buchen, hatte sich ein Kreis um zwei Personen gebildet. Scharfe Klingen zeigten von allen Seiten auf Mehn Wudu und Ghan Leddan, die entwaffnet im Gras knieten. Letzterer hatte einen hässlichen Schnitt quer über das Gesicht, der stark blutete. Seine Augen richteten sich auf Ghan Shedor, der mit Todesgrund in der Hand vor ihn trat.
»Wie konntest du!«, schrie er seinen Onkel an und strich sich zitternd die schwarzen Haare aus dem Gesicht. »Elender Verräter! Ich hab dir vertraut! Alle haben dir vertraut!«
Ghan Leddan schwieg, was Ghan Shedor nur noch wütender machte, aber er riss sich zusammen und wandte sich stattdessen an einen Erzwächter neben sich. »Ist mein Sohn in Sicherheit?«
Der angesprochene Mann nahm Haltung an, wurde leicht bleich. »Er ist noch nicht unter den Geflüchteten. Euer Bruder...«
Ghan Shedor stieß einen Schrei der Verzweiflung aus und starrte über die Mauer hinweg auf den brennenden Krähen-Palast. »Schickt jemanden rein, der nach ihnen sucht!«, fuhr er den Erzwächter an, der sofort davon stolperte. Dann sah er ein letztes Mal hinüber zu seinem Onkel und dem Anführer der Drachenklauen neben ihm. »Irgendwelche letzten Worte, Abschaum?«
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...