Kapitel 68: Unschuld - Teil 9

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Acht Jahre später im Krähen-Palast der Ghan-Gilde.

Mahr Ledja fühlte sich wie in einer dieser Geschichten, die sie im Rothirsch-Turm gelesen hatte. Wo alles schief ging, was nur schief gehen konnte, dann aber der große Held kam und alle rettete. Nur gab es in dieser Welt keinen solchen Helden. Und es gab nichts Anderes, was diese Situation irgendwie retten konnte. Mit steifen Bewegungen und blassem Gesicht kehrte sie zu ihrem Platz neben Mahr Hefay zurück. Wenigstens hatte ihre Stimme nicht gezittert, als sie Ghan Minue den Segen für diese Ehe gegeben hatte. Sie war zwar nicht die Mutter der Braut, aber da die echte offiziell tot war – in Wirklichkeit jedoch nur zwei Plätze weiter saß –, fiel ihr diese Aufgabe zu. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Ghan Ilana regungslos ins Nichts starrte. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos, aber mindestens genauso bleich wie das von Mahr Ledja. Nur würden die Gäste es bei ihr auf ihre Krankheit schieben, wegen der sie immer schwächer wurde.

Nachdem Ghan Shedor den Schleier seiner Ehefrau weggeworfen und sie mit verschränkten Armen den Wein getrunken hatten, stand Mahr Ledja zusammen mit Mahr Hefay, Ghan Kedron und Ghan Ilana nochmal auf.

»Ghan Shedor und Ghan Minue«, verkündeten sie feierlich, wobei Mahr Ledja jedoch bemerkte, dass ihre Freundin die Lippen nur mitbewegte, aber nicht sprach. »Vereint im Leben, vereint im Tod, vereint bis in die Ewigkeit!«

Ohrenbetäubender Jubel brach aus, während das junge Ehepaar die Stufen zum Tisch neben ihren Eltern hoch schritten. Ghan Ilana war die erste, die sich zurück auf ihren Stuhl setzte. Sie sah überhaupt nicht gut aus. Fast, als würde sie jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Ghan Kedron stützte sie besorgt und winkte bereits einen Diener her, der sich um sie kümmern sollte. Mahr Ledja kam ihm zuvor.

»Lasst mich sie zum Heiler bringen«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Ich weiß, wo das Krankenzimmer sich befindet.«

Ghan Kedron zögerte, aber als Ghan Ilana ihm beruhigend die Hand auf den Unterarm legte und schwach nickte, gab er nach. »In Ordnung.«

Mahr Ledja trat neben ihre Freundin und half ihr auf die Beine. Sie war viel dünner geworden seit sie sich das letzte Mal gesehen hatte. Das war ihr sofort aufgefallen, aber jetzt, wo sie sich ihre Arme um die Schultern gelegt hatte, wurde ihr erst das gesamte Ausmaß klar. Ihre Handgelenke waren so dünn, dass selbst eine Kinderhand sie umfassen könnte. Die Gäste machten ihnen respektvoll Platz und warfen Ghan Ilana mitleidige Blicke hinterher.

Im Krankenzimmer angekommen ließ Mahr Ledja ihre Freundin vorsichtig auf das Bett gleiten. Sie wollte gerade wieder loslaufen und den Heiler holen, als Ghan Ilana sie zurückhielt und ihr bedeutete, sich zu ihr runter zu beugen. Offenbar wollte sie ihr etwas sagen.

»Es hat nicht geklappt«, flüsterte Ghan Ilana schwach. »Nun haben Bruder und Schwester also geheiratet.«

»Noch ist nicht alles verloren«, erwiderte Mahr Ledja entschlossen. Frustriert rückte sie den Kopfschmuck zurecht, der auf dem Weg etwas verrutscht war. Ganz abnehmen konnte sie ihn nicht. Er war mit unzähligen Spangen und Nadeln an ihren Haaren befestigt. »Wenn während der Hochzeitsnacht nichts geschieht, wird alles gut. Ghan Shedor hat Viah doch noch nicht aufgegeben, oder?«

Ghan Ilana schüttelte den Kopf. »Er hat sie sogar heimlich auf die Feier geschleust. Wahrscheinlich wird er sich in der Nacht heimlich zu ihr schleichen.«

»Siehst du?« Mahr Ledja lächelte ihre Freundin aufmunternd an. »Alles wird gut.« Sie war sich so sicher gewesen, dass ihr Plan mit der Prostituierten aufgehen würde. Dame Ejill hatte sich tatsächlich an ihre Abmachung gehalten und zur richtigen Zeit eines ihrer Mädchen zum Krähen-Palast geschickt. Eine Frau, die sogar noch zwei Jahre jünger als Ghan Shedor war und ihn so sehr um den Finger gewickelt hatte, dass die Hochzeit beinahe abgesagt worden war. Aber auch nur beinahe. Ghan Kedron bestand so sehr auf einem Bündnis mit der Mahr-Gilde, dass ihm sein Ruf und der Ruf seines Sohnes relativ egal waren. Der Stolz des Schwarzen Pfaus war unerreichbar.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt