Rin Verran konnte nicht so schnell aufbrechen wie er es ursprünglich geplant hatte. Sun Shimei konnte er zwar problemlos einem der anderen Meister unterstellen – er hatte Wrun Tarebo gewählt, weil dort auch die meisten seiner Freunde waren –, aber Mahr Xero hatte viel mehr Schüler, die er unter großen Protesten bis zu seiner Rückkehr aufteilen musste. Er war nach zwei Tagen zu Rin Verran gekommen und hatte verkündet, dass er ihn begleiten würde. »Um sicher zu sein, dass du dich an unsere Absprache hältst«, hatte er gesagt. Natürlich wollten viele wissen, warum diese zwei Meister so plötzlich zum Krähen-Palast aufbrechen würden.
»Es geht um unsere Sicherheit«, erklärten sie dann immer. »Die Krieger der Sonne werden immer dreister und wir wollen Gilden-Anführer Ghan persönlich um weitere Erzwächter bitten.«
Zwar erklärte das nicht, warum sie nicht einfach einen Boten schickten, aber keiner fragte weiter nach. Nicht mal Wrun Lilath, obwohl ihr das Misstrauen anzusehen war. Die einzige, die etwas ahnte, ohne zu wissen, was genau, war Rin Veyvey. Fast jeden Tag löcherte sie Rin Verran mit Fragen und ging sogar runter in den Kerker, um mit ihrer Schwester zu reden. Aber alle hielten dicht.
Den Abend vor ihrem Aufbruch saß sie mit Rin Verran alleine am Essenstisch – Rin Kahna schlief schon – und fragte ihn erneut: »Warum sagst du mir nicht, was der wirkliche Grund für deine Abreise ist?«
»Ich habe es dir schon tausend Mal gesagt.«
»Und mich tausend Mal angelogen.« Rin Veyvey hämmerte die Gabel auf den Tisch. »Du hast gesagt, du möchtest mit Arcalla reden und es ginge um ein Geheimnis. Also, um was genau geht es?«
»Ich habe mich geirrt«, antwortete Rin Verran. »Sie weiß nichts von irgendeinem Geheimnis.«
Rin Veyvey sog scharf die Luft ein und stand ruckartig auf. »Ich habe so viel für dich getan, dir so viele meiner Geheimnisse verraten und deine Geheimnisse bewahrt und jetzt kannst du mir immer noch nicht die Wahrheit sagen!« Mit vor Wut und Enttäuschung verzerrtem Gesicht ging sie an ihm vorbei und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Flur klangen ihre Schritte wie Donnerschläge. Bei jedem davon wünschte Rin Verran sich, sie würden sich noch weiter entfernen.
Seufzend beendete er seine Mahlzeit, doch als er zurück in sein Zimmer wollte, stellte er fest, dass Rin Veyvey abgeschlossen hatte. Natürlich, dachte er. Natürlich hat sie das. Es war allerdings das erste Mal, dass sie es im Rothirsch-Turm getan hatte und es war bereits so spät, dass alle anderen schon schliefen. Gedankenverloren irrte er durch die Stockwerke des Rothirsch-Turms auf der Suche nach einem leeren Zimmer mit einem Bett für die Nacht. Irgendwann sah er keine andere Möglichkeit als runter in den Kerker zu gehen. In jeder der Zellen gab es eine hölzerne Liege. Erniedrigend, aber für einmal reichte es.
Er war gerade die ersten Stufen hinab gestiegen, als ihm der Gedanke kam, dass Dul Arcalla hier irgendwo sein müsste. Zwar hatte er die Tür ihrer Zelle aufgelassen, aber er hatte nie mitbekommen, dass sie sie wirklich verließ. Was sie wohl jetzt tat? Der Anblick, der sich ihm bei ihrem Wiedersehen geboten hatte, hatte sich tief in seinen Kopf gebrannt. Eine herzzerreißende Traurigkeit legte sich über ihn. Wenn er sie doch bloß früher aus dem Krähen-Palast weg geholt hätte. Warum hatte er nicht daran gedacht?
Überrascht blieb er stehen, als er sich vor einer offenen Zellentür wiederfand. Sie war nur angelehnt. Aus dem Inneren leuchtete das flackernde Licht einer Kerze. Rin Verran hob die Hand, um anzuklopfen, zögerte. Sie wird mich wegschicken, dachte er. Sie hasst mich. Was bin ich nur für ein Narr? Warum laufe ich immer wieder zu ihr zurück! Gerade wollte er sich wieder umdrehen und gehen, als aus dem Raum Schritte ertönten. Mehr Licht fiel auf den Flur, wurde dann verdeckt von der Gestalt einer Frau.
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...