»Und so entstanden die Drachenklauen«, beendete Mehn Wudu seine Erzählung und sah Rin Verran erwartungsvoll an. »Wie du siehst, sind unsere Taten gerechtfertigt.«
Rin Verran starrte den Mann vor sich an. Unfähig, irgendein Wort zu sagen. Sein Blick wanderte zu der Blutlache, in der Se Rafal vor Kurzem noch gelegen hatte. Se Laf, seine Schwester, wie er jetzt erfahren hatte, hatte ihn aus der Höhle getragen. Wahrscheinlich, um ihn zu begraben. Das schlechte Gewissen, den Tod des Leibwächters seiner Mutter verlangt zu haben, nagte an ihm.
Was denke ich da?, fuhr er sich stumm an. Er hat Jadna getötet. Er hat es verdient. Genauso wie alle anderen Drachenklauen es verdient haben. Oder? Dieser Zweifel machte ihn verrückt. Ich darf mich nicht von dieser Geschichte beeinflussen lassen. Ich habe mir vorgenommen, die Drachenklauen endgültig auszulöschen. Das werde ich auch tun. Ich muss mir erst ihr Vertrauen verdienen, damit sie mir Habichtfeder zurückgeben, und sie dann alle töten.
Er hielt seine rechte Hand fest, die aus irgendeinem Grund angefangen hatte zu zittern. »Die Gilden verdienen es wirklich, dass sie zerstört werden«, sagte er fest. »Ich wusste nur sehr weniges von dem, was du mir eben erzählt hast.«
Ein erleichtertes Lächeln machte sich auf Mehn Wudus Gesicht breit. »Ich wusste, dass du es verstehen würdest!«
»Ich traue ihm trotzdem nicht«, warf Steinherz, deren echter Name Dia Nemesis war, ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Ghan Leddan, der sich mittlerweile auf der anderen Seite von Mehn Wudu platziert hatte, schwieg. Der Blick, mit dem er Rin Verran betrachtete, war einfach nur unheimlich.
Was geht in diesem Kopf vor?
»Werdet ihr mir vertrauen, wenn ich euch den Schlüssel besorge?«, fragte Rin Verran, bevor Mehn Wudu etwas sagen konnte.
»Also weißt du doch, wo er ist?« Dia Nemesis sah ihn finster an.
»Nein«, antwortete er ehrlich. »Aber vielleicht fällt mir etwas ein, wenn ihr mir mehr Zeit zum Nachdenken gebt.«
Mehn Wudu nickte zustimmend und sogar Dia Nemesis machte eine Kopfbewegung, die an ein knappes Nicken erinnerte.
»Eine Frage habe ich allerdings noch«, sagte Rin Verran. »Ihr wollt das Wasser der Wahrheit benutzen, damit jemand, der damals dabei war, alles zugibt. Aber sind nicht alle Beteiligten außer euch selbst schon tot?«
»Nein«, entgegnete Ghan Leddan. »Meister Val wird immer noch im Kerker des Krähen-Palastes gefangen gehalten.«
»Anfangs haben wir versucht, einen der Gilden-Anführer gefangen zu nehmen, aber sie alle haben sich eher selbst getötet als uns in die Hände zu fallen, nachdem sie erkannt haben, wer wir sind«, erklärte Mehn Wudu. »Einige sind aber auch gestorben, bevor wir überhaupt in ihre Nähe gekommen sind. Also blieb uns nichts anderes übrig als eines ihrer Kinder als unseren potentiellen Zeugen zu betrachten. Unsere Gelegenheit bot sich viele Jahre später, als Va Dalja von Mahr Hefay abgelehnt wurde. Zuvor wollte sie nichts tun, was der Mahr-Gilde schadete – immerhin war Mahr Hefay der Vater ihres Sohnes –, aber nach diesem Vorfall schwor sie Rache. Sie ist diejenige, die in Wirklichkeit für den Krieg zwischen der Mahr-Gilde und der Ghan-Gilde verantwortlich ist. Als der Rothirsch-Turm eingenommen wurde, war es ein Leichtes für uns, Mahr Hefay gefangen zu nehmen.«
»Aber Mahr Hefay ist gestorben«, sagte Rin Verran und erinnerte sich im selben Moment an das, was Mahr Xero ihm erzählt hatte. »Er wurde gefoltert, bevor ihm der Kopf abgetrennt wurde. Wart ihr das?«
»Ja«, meinte Mehn Wudu zögernd. »Ja. Sie hat ihn gefoltert. Aber getötet haben wir ihn erst, als wir erfahren haben, dass Val Zirro den Angriff auf die Gämsen-Pagode überlebt hat und jetzt gefangen gehalten wird. Mahr Hefay wäre sowieso zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen. Sie hat sich zu viel Mühe gegeben.«
»Sie?« Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine fragile Tänzerin wie Va Dalja zu so etwas fähig wäre.
Mehn Wudu ignorierte seine Frage und fuhr fort: »Sobald wir das Wasser der Wahrheit haben, werden wir dafür sorgen, dass alle Gilden sich im Krähen-Palast versammeln und Val Zirro aus dem Kerker geholt wird, um allen die wahre Geschichte über die Auslöschung der Mehn-Gilde zu erzählen.«
»Du verrätst zu viel«, warnte Dia Nemesis.
»Ist schon gut«, beruhigte Mehn Wudu die Frau. »Wenn er Fragen hat, soll er sie stellen.«
»Was ist mit Ghan Kedron? Ihr hattet die perfekte Gelegenheit, ihn gefangen zu nehmen.«
»Er musste sterben«, sagte Ghan Leddan. »Das war meine einzige Bedingung bei unserem Plan.«
»Also hast du wirklich deinen eigenen Bruder getötet.« Rin Verran versuchte, es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen, aber es gelang ihm nicht recht. Wie viele Leben hat er auf seinem Gewissen?
Ghan Leddan antwortete nicht und ließ auch nicht durchscheinen, ob ihn diese Worte irgendwie berührt oder verletzt hatten.
»Warum habt ihr Mahr Xero dann den Kopf seines Vaters vorgeworfen?«, fragte Rin Verran, bevor Dia Nemesis wieder Gelegenheit bekam, ihr Misstrauen ihm gegenüber zu äußern.
Mehn Wudus Lippen zuckten. »Mahr Xero ist der Sohn von Mahr Hefay und genauso verdorben wie sein Vater. Jin Gajin hat ihm den Kopf in einer Kiste vor die Tür gestellt. Alle wissen, dass sein Vater sein größter Held ist. Der Anblick muss ihn wahnsinnig gemacht haben. Wenn er überhaupt nüchtern genug war, um das zu verarbeiten.«
Rin Verran hätte am liebsten geschrieen. Wann ist aus dem Vorsatz, keine unschuldigen Menschen zu töten, etwas geworden, was man fast schon als blinden Wahn bezeichnen kann?
Mehn Wudu sah ihn nachdenklich an. »Du weißt erstaunlich viel, Verran. Hat Mahr Xero dir erzählt, dass er seinen Vater nicht selbst getötet hat?«
»Ja.«
Mehn Wudu nickte und wandte sich schließlich an Dia Nemesis. »Ich nehme an, du bestehst darauf, ihn im Auge zu behalten?«
»So ist es«, entgegnete die Frau kalt.
»Dann zeig ihm sein neues Zuhause.« Er warf Rin Verran einen abschließenden Blick zu. »Hoffen wir, dass er sich wirklich anstrengt, um herauszufinden, wo der Schlüssel seiner Mutter sich verbirgt.«
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...