Kapitel 116: Wahrheit - Teil 2

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Als Val Zirro mit gefesselten Händen und Ketten an den Beinen in die Versammlungshalle geschleift wurde, sprangen einige der Gäste erschrocken von ihren Plätzen auf. Andere spuckten das Stück Fleisch oder Brot aus, das sie gerade gekaut hatten. Nur wenige wagten es, einen fragenden oder sogar kritischen Blick in Richtung Ghan Shedor zu werfen, der sie alle jedoch gekonnt ignorierte. Er selbst hatte den ehemaligen Anführer der Val-Gilde ja auch nicht mehr gesehen seit Ghan Idos ihn als Gefangenen hierher gebracht hatte.

Die zwei Erzwächter, die Fah Zaromo begleitet hatten, ließen den alten Mann vor der ersten Treppenstufe auf den Boden fallen. Es gab ein unangenehmes Knacken der Gelenke, als seine Knie auf dem harten Stein aufkamen, der sich unter dem Teppich befand. Nur mit Mühe konnte er sich aufrecht halten und als er den Kopf hob, waren seine Augen so tief in den Höhlen, dass sie kaum zu sehen waren. Der weiße Bart, den er in der Gämsen-Pagode so gut gepflegt hatte, war verfilzt und löchrig geworden. Die Haare waren genauso schmutzig wie seine Kleidung, die nur aus Leinenhemd und -hose bestand. Er war barfuß, wobei seine Knöchel von den Ketten blutig gerieben worden waren.

»Er ist zwar ein Gefangener, aber er ist immer noch ein ehemaliger Meister und Gilden-Anführer«, flüsterte jemand, den Ghan Shedor ganz klar als Gilden-Anführer Ko erkannte. Der alte Mann hätte schon lange unter der Erde liegen müssen, wie auch der Rest seiner Familie, doch durch irgendein Wunder lebte er immer noch.

Ghan Shedor ignorierte das Getuschel und sah seinen Onkel stattdessen auffordernd an, der ihm dankbar zunickte und nun an Val Zirros Seite trat. Der alte Meister beachtete Ghan Leddan jedoch gar nicht, sondern starrte Ghan Shedor so eindringlich an, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Ich weiß, du hältst mich für ein Monster, aber welche Wahl hatte ich schon? Du hast keine Ahnung, wie es ist, alles mit einem Schlag zu verlieren!

»Ich habe Meister Val Zirro holen lassen«, hob Ghan Leddan im selben Moment an, »weil er genau weiß, wer die Drachenklauen sind und warum sie tun, was sie tun. Denn er war damals dabei, als etwas passierte, was nie hätte passieren dürfen.«

Ein geschocktes Schweigen legte sich über die Versammlungshalle, während Ghan Leddan sich genau vor Val Zirro stellte und ihm so die Sicht hinauf zu Ghan Shedor versperrte. »Du erinnerst dich bestimmt noch genau an das, was vor sechsundzwanzig Jahren geschehen ist. Es gab eine Gilde auf dem Territorium der Rin-Gilde, über die jetzt nicht mehr gesprochen wird. Eine Gilde der Heiler. Die Mehn-Gilde. Erinnerst du dich an sie?«

Val Zirro antwortete nicht.

»Die Mehn-Gilde war ein verlogenes Pack«, verkündete Gilden-Anführer Ko, wobei die schlaffe Haut seiner eingefallenen Wangen auf und ab schwang. »Hat Sachen erfunden, die sie mit niemandem teilen wollte. Behauptete, es wären Heilmittel, dabei waren es Waffen. Jeder aus meiner Generation kennt diese Geschichte.«

»Aus seiner Generation«, schnaubte eine Frau aus der hintersten Reihe. »Wie viele aus seiner Generation gibt es noch?«

»Vor sechsundzwanzig Jahren«, fuhr Ghan Leddan fort, »gab es ein Bündnis aus mehreren Gilden, das der Mehn-Gilde ihre Geheimnisse entreißen wollte. Dazu gehörten die fünf mächtigsten Gilden. Die Mahr-Gilde, die Rin-Gilde, die Dul-Gilde, die Ghan-Gilde und auch die Val-Gilde. Meister Val, Ihr wart damals ebenfalls an diesem Verrat beteiligt. Nicht alle, die damals bei der Mehn-Gilde zu Gast waren, wussten, was geschehen würde. Ich wusste es zum Beispiel nicht. Aber Ihr wusstet es. Man fragt sich natürlich, mit welchen Versprechen man die sonst friedliche Val-Gilde dazu bekommen könnte, bei so einem Verrat mitzuwirken.«

Val Zirro schwieg weiterhin, während es in den Köpfen der Anwesenden offenbar heftig arbeitete. Ghan Shedor selbst runzelte verwirrt die Stirn. Er hatte die Geschichte noch nie so ausführlich gehört. Es war nur natürlich, dass Gilden gegründet wurden und dann wieder verschwanden. Besonders kleine Gilden mit wenig Geld und Macht. Wenn der Gilden-Anführer starb ohne einen Erben zu hinterlassen, war seine Gilde mehr oder weniger am Ende.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt