Nach dem Gespräch im Ratszimmer und der Begegnung mit Wez Yumaton kam Rin Verran nicht umhin, immer wieder an Rin Raelin zu denken. Er wusste, dass er ihn im Kerker besuchen könnte, hatte das bisher jedoch vermieden. Erst jetzt, angesichts eines Menschen, der wirklich seinen eigenen Bruder getötet hatte, wuchs in ihm der Drang, Rin Raelin zu sehen. Wie viel auch zwischen ihnen passiert war, sie blieben immer noch Brüder. Den Tag vor der Abreise riss Rin Verran sich schließlich zusammen und stieg die vielen Stufen hinunter.
Der Kerker war kein angenehmer Ort. Er erinnerte ihn jedes Mal an Mahr Yuzhu und seit dem Tod des Attentäters hatte er ihn auch nicht mehr betreten. Die wachhabenden Erzwächter nickten ihm respektvoll zu, bis er vor der Zelle ankam, in der Rin Raelin gefangen gehalten wurde.
»Öffnet die Tür«, befahl er.
Der Erzwächter vor der Tür wirkte irritiert, holte aber trotzdem seinen Schlüsselbund hervor und schloss auf. Dahinter herrschte tiefe Dunkelheit, die erst erhellt wurde, als Rin Verran eine Fackel von der Wand im Flur nahm und eintrat. Das Licht flackerte über graue Steinwände und den schmutzigen Boden. Ganz hinten hockte eine Gestalt. Oder sie kniete eher in einer schmerzhaft aussehenden Position. Die Arme waren nach oben gestreckt, weil die Handgelenke mit Ketten weiter oben an der Wand befestigt waren, während der Oberkörper nach vorne gekippt war. Lange, dunkelbraune Haare fielen der Person ins Gesicht, die nun leicht den Kopf hob.
»Ich habe mich also nicht verhört«, zischte Rin Raelin und schnaubte verächtlich. »Mein ach so toller Bruder kommt mich besuchen. Was für eine Ehre!«
Rin Verran befestigte die Fackel an der Wandhalterung und schloss die Tür hinter sich. Es wäre besser, wenn die Erzwächter draußen nicht hörten, was hier vor sich ging. Auch wenn sie wahrscheinlich sowieso lauschen würden.
»Hast du nichts zu sagen?«, spottete Rin Raelin weiter. »Kein warmes Wort des Trosts? Kein Wort der Entschuldigung?«
»Ich bin gekommen, um zu reden«, sagte Rin Verran langsam.
»Zu reden!« Rin Raelin spuckte aus und lachte ungläubig auf. »Es gibt nichts mehr, worüber wir reden können! Das weißt du genauso gut wie ich! Wir sind keine Brüder mehr! Warum bist du in Wirklichkeit hier?«
Rin Verran schwieg.
»Hat die Aaskrähe dich geschickt? Sollst du mich genauso brechen wie er es mit Mahr Xero getan hat? Denkst du, ich hätte das nicht mitbekommen! Ich höre, worüber die Erzwächter draußen sich unterhalten! Und ich habe mich schon gefragt, wann endlich jemand kommt, um mir ein ähnliches Angebot zu machen. Dass ich meine Mutter töten soll zum Beispiel. Verrecken sollen sie alle!«
Sein wilder Blick heftete sich auf Rin Verran, der immer noch schweigend vor ihm stand. »Warum starrst du mich so an? Ich bin nicht mehr der Raelin, den du kanntest! Ich habe mich verändert! Ich habe gesehen, wie die Ghan-Gilde und die Dul-Gilde die Feuerkorn-Steppe niedergebrannt haben! Wie sie den Phönix-Hof zerstört und alle Bediensteten getötet haben! Wie sie Vater ermordet haben! Und Mutter...« Er keuchte wie unter Schmerzen. Ein rotes Rinnsal floss von seinen Handgelenken den Arm hinab, wo die Ketten sich in sein Fleisch schnitten, weil er die Fäuste geballt hatte. »Ich wollte wenigstens einen von ihnen retten. Wenigstens einen! Ich hätte es schaffen müssen! Aber Vater wollte sich nicht retten lassen. Er wollte sich nicht mal ergeben!
›Raelin‹, hat er gesagt, als ich ihn angeschrien habe, zu gehen. ›Ein Gilden-Anführer lässt seine Anhänger nicht im Stich! Hast du mir denn nie zugehört! Hau jetzt ab! Nimm deine Mutter und hau ab!‹
Und was hat Mutter gesagt? ›Raelin, du hast deinen Vater gehört! Wag es ja nicht, dich in den Kampf zu werfen!‹
Aber es war nicht auszuhalten! Überall war Feuer! Überall waren Pfützen voller Blut und Leichen. Schreie. Vaters zornige Stimme und dann auch die von Mutter, als ich mich von ihr losgerissen habe. Ich war blind vor Wut. Und ich konnte nichts dagegen tun. Ich dachte, ich könnte sie besiegen, sie alle besiegen und meine Gilde retten. Ich dachte... Ich dachte...«
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...