Es dauerte keine zwei Wochen, bis ein Brief mit dem Siegel der Ghan-Gilde im Rothirsch-Turm, dem Wohnsitz der Mahr-Gilde, ankam. Mitten im Gebirge, am Hang des Schwarzgras-Berges, erhob sich dieser mächtige Turm. Seine Stockwerke setzten sich sogar unterirdisch noch fort, wurden aber kaum benutzt. Auf der Spitze befand sich der Taubenschlag, in dem ein Anhänger der Mahr-Gilde sich um die Briefe kümmerte und sich gelangweilt fragte, ob er vielleicht mal die Stange austauschen sollte, auf der die ganzen Tauben landeten. Irgendwie war sie schon ziemlich zerkratzt. Als er das Siegel mit dem roten Faden für eine dringende Botschaft sah, blieb sein Herz jedoch fast stehen und er vergaß alles andere. Er arbeitete noch nicht lange hier und schon gab es irgendwelche wichtigen Neuigkeiten. Vielleicht hat Gilden-Anführerin Ghan endlich ihr Kind bekommen, dachte er. Vielleicht bekommt Gilden-Anführer Mahr die Ehre, sich einen Namen für sein Enkelkind auszusuchen.
Im dritten Stock des Rothirsch-Turms, wo Mahr Hefay seinen Empfangsraum hatte, wurde er eines Besseren belehrt. Ohne dass er erfuhr, was genau in diesem Brief stand, wurde der Mann, der sich um die Tauben kümmerte, nach draußen geführt. Dann gab es lautes Geschrei zwischen den anwesenden Erzwächtern im Raum, während Mahr Hefay sich nur ab und zu mit einer gelangweilten Stimme zu Wort meldete. Das Ganze endete damit, dass die Tür nach einiger Zeit wieder geöffnet wurde und dem Anhänger ein Brief mit einem schwarzen Faden gegeben wurde, den er sofort in den Krähen-Palast losschicken sollte. Der Anhänger, kaum eine Woche im Dienst, erbleichte. Ein schwarzer Faden bedeutete Krieg. Nachdem die Taube mit dem Brief losgeflogen war, schmiss er seine Arbeit hin, verließ den Rothirsch-Turm und schwor sich, nie wieder zurückzukehren. Er war kein ausgebildeter Erzwächter und hatte nie die Gämsen-Pagode besucht. Wenn wirklich ein Krieg bevorstand, wollte er so weit von ihm entfernt sein wie es nur ging.
Nach weiteren zwei Wochen gab es ein lautes Geschrei im Krähen-Palast und dann nacheinander in den restlichen Wohnsitzen der großen Gilden. Jede von ihnen hatte zwei Briefe bekommen, jeweils mit einem roten Faden. Doch ein Siegel zeigte die Krähenfeder der Ghan-Gilde und das andere den Hirschkopf der Mahr-Gilde.
»Wir können es uns nicht leisten, irgendeine der Seiten zu unterstützen«, sagte Val Zirro und sah die drei anderen Meister mit seinen hellblauen Augen ernst an. »Die Val-Gilde hat Erzwächter in allen Gilden ausgebildet. Wir würden uns gegen unsere eigenen Schüler stellen. Das würde nur noch mehr Konflikte verursachen.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was genau passiert ist«, meinte Zha Denja und fächerte sich mit Windspiel Luft zu. Dabei bewegten sich auch die Blätter des Efeus, der sich die Stützbalken des Pavillons hoch rankte. »Es gab einen Anschlag auf Gilden-Anführerin Ghan und der Attentäter gab bekannt, dass Gilden-Anführer Mahr ihn geschickt hat. Aber dieser streitet es ab? Wer ist denn jetzt Schuld?«
»Jeder hat seine eigene Wahrheit«, sagte Jhe Newin scharf und starrte sie finster an. »Und ich fürchte, wir werden nie herausfinden, wer im Recht und wer Schuld ist. Offensichtlich sind beide Seiten auf Krieg aus. Die Ghan-Gilde und die Mahr-Gilde haben sich sowieso nie gut miteinander verstanden. Es war von vornherein klar, dass die Heirat zwischen Ghan Shedor und Mahr Minue zu nichts Gutem führen würde. Es ist schon ein Wunder, dass Ghan Kedron es damals nicht als Beleidigung aufgefasst hat, dass Mahr Hefay eine Bastardtochter mit seinem Sohn verheiraten wollte. Aber offenbar war ihm das Bündnis wichtiger.«
»Und das Bündnis ist jetzt gebrochen«, fügte Val Zirro gedankenverloren hinzu.
»Was werden wir machen, Bruder?«, fragte Val Erjan. »Beide Seiten warten auf unsere Entscheidung.«
»Es ist offensichtlich, dass die Seite, für die wir uns entscheiden, in einem großen Vorteil sein wird«, warnte Jhe Newin. »Die Gämsen-Pagode liegt direkt in der Mitte zwischen dem Territorium der Ghan-Gilde und dem Territorium der Mahr-Gilde. Sie ist eine wichtige, strategische Position.«
DU LIEST GERADE
Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...