Kapitel 8: Blumen - Teil 1

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Meister Jhe brauchte Rin Verran nicht holen zu lassen. Der Junge kam alleine zur Steinplattform. Nicht mal in Begleitung seines Bruders. Auf seinem Gesicht war keine Angst zu erkennen, nur eine verbitterte Entschlossenheit. Meister Jhe umfasste die Peitsche in seiner Hand fester, versuchte, das Zittern in seinen Armen zu unterdrücken, als Rin Verran die Stufen hoch stieg und sich steif verbeugte

»Meister, es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe gestohlen und somit gegen den Kodex verstoßen. Ich habe Euch enttäuscht.«

Enttäuscht?, dachte Meister Jhe. Enttäuscht! Natürlich hast du mich enttäuscht! Ich habe dich als meinen Schüler genommen, um einen besseren Menschen aus dir zu machen! Um zu sicher zu gehen, dass du so wirst wie deine Mutter. Aber scheinbar hast du zu viel von Rin Baleron in dir. Selbst dein Aussehen...

Er konnte es nicht ertragen, jeden Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, jemanden vor sich sitzen zu sehen, der genauso aussah wie Rin Baleron in seiner Jugend. Bestimmt hatte er seinen Söhnen nichts von dem erzählt, was in der Vergangenheit passiert war. Jedenfalls kein Wort von der Auslöschung der Mehn-Gilde. Sonst hätten die beiden Brüder sofort gewusst, welche Geschichte er ihnen an ihrem ersten Tag erzählt hatte. Wenigstens sollte Rin Verran jetzt Bescheid wissen. Es war eine gute Idee gewesen, Zen Ramka das Buch aus dem obersten Stockwerk der Schriftensammlung holen zu lassen und es zufällig Bao Jenko zu lesen zu geben, mit dem die beiden Brüder befreundet waren.

»Knie nieder«, befahl Meister Jhe und wartete, bis Rin Verran vor ihm hockte. Der Junge machte sogar Anstalten, sein Hemd auszuziehen, aber er hielt ihn auf. »Nein. Behalte es an.«

Rin Verran nickte nur und ballte die Fäuste. Es kostete Meister Jhe einige Anstrengung, die Peitsche zu heben und sie schließlich auf den Rücken des Jungen niedersausen zu lassen. Er gab keinen Laut von sich, zuckte nur kurz zusammen, obwohl der Schmerz schon beachtlich sein musste. Meister Jhe zog die Augenbrauen zusammen. Wenigstens die Sturheit seiner Mutter hat er geerbt. Beim nächsten Schlag konnte er nicht hinsehen. Es kam ihm vor, als würde er Mehn Shia selbst weh tun, obwohl der Junge doch überhaupt nicht wie sie aussah. Aber er konnte, durfte auch nicht aufhören. Fünf Hiebe hatte er sich vorgenommen. Es mussten fünf Hiebe sein.

Beim dritten Schlag entwich Rin Verran ein schmerzhaftes Keuchen. Meister Jhe hielt kurz inne. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie bereits einige der Schüler aus ihren Häusern kamen und mit großen, ungläubigen Augen beobachteten, was auf der Plattform vor sich ging. Herz aus Stein, redete Meister Jhe sich ein. Herz aus Stein. Und führte den vierten Hieb aus.

Plötzlich hatte er das Gefühl, es wäre wieder wie damals, wie vor siebzehn Jahren, als er erfahren hatte, dass die Mehn-Gilde ausgelöscht worden war und Rin Baleron Mehn Shia mit zum Phönix-Hof genommen hatte. Seine Verzweiflung, sein Schmerz waren so groß gewesen. Er hatte sich gewünscht, quer durch die Territorien bis zum Wohnsitz der Rin-Gilde zu reisen und Rin Baleron zu einem Duell auf Leben und Tod herauszufordern. Wie sehr hatte er sich gewünscht, ihn leiden zu lassen für das, was er getan hatte. Aber sein Bruder hatte ihn aufgehalten. Die Jhe-Gilde war zu klein. Sie konnten keinen Krieg mit der Rin-Gilde riskieren, auch wenn sie als die besten Schwertkämpfer unter allen Erzwächtern galten. Und so vergrub er seinen Schmerz und seinen Zorn tief in sich. Hinter einer steinernen Mauer, die sein Herz fest umschloss. Nur ein Mal war sie bisher gebröckelt. Nur ein Mal. Und jetzt drohte sie, es wieder zu tun. Oder war sie bereits gebrochen?

»Meister Jhe!«

Auf einmal ergriff jemand ihn am Handgelenk und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Bewegung, die sein Arm ausführen wollte. Er wurde aus seinen rasenden Gedanken gerissen, zog die Augenbrauen zusammen und keuchte auf, als er die blutigen Striemen sah, die sich über Rin Verrans Rücken zogen. Trotz des Hemdes, das er anbehalten hatte. Der Junge hielt sich gerade noch so aufrecht, stöhnte aber vor Schmerzen und hatte die Finger in den Stoff seiner Kleidung gekrallt.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt