Rin Verran hatte ursprünglich erwartet, dass er in den Kerker des Forellen-Pavillons geworfen werden würde, bis Dul Nehmon ein Urteil fällte, aber dem war nicht so. Ob es überhaupt einen Kerker gab, wusste er nicht. Vielleicht war das wegen der Nähe zum Stillwasser-See gar nicht möglich, da er sonst direkt volllaufen würde. Stattdessen wurde er in einen Teil eines Nebengebäudes gesperrt, von dem aus er die spiegelglatte Wasserfläche und die bewaldeten Inseln in einiger Entfernung vom Ufer sehen konnte. Er fühlte sich nicht wie ein Gefangener, aber alle Fenster waren fest von außen verriegelt und vor der einzigen Tür standen Tag und Nacht bewaffnete Anhänger der Dul-Gilde, sodass es ihm unmöglich war, zu fliehen.
Dafür hatte er den ganzen abgesperrten Teil für sich alleine. Und zwar nicht nur ein Zimmer, wie er es am Phönix-Hof als Sohn des Gilden-Anführers hatte, sondern gleich drei. In einem stand sein Bett, das zweite war das Bad und im dritten war anscheinend eine kleine Bibliothek, für die er sich allerdings nicht interessierte. Den größten Teil nahm der Eingangsbereich ein, der bis auf mehrere Möbel an den Wänden und einem niedrigen Tisch mit Stühlen praktisch leer war. Dort aß er auch immer das Essen, das ihm drei Mal täglich gebracht wurde. Mehrere Tage blieb er in diesem Gebäudeteil, dachte über Rin Raelins schmerzhaften Verrat nach und wurde zunehmend nervöser, weil einfach niemand kam, um ihm seine Strafe zu verkünden.
Es waren fast zwei Wochen vergangen, bis endlich Stimmen von draußen ertönten, die er noch nicht gehört hatte. Und sie gehörten offenbar zwei Frauen, die wild auf die Wächter einredeten, bevor diese leise fluchend nachgaben und die Tür öffneten. Rin Verran richtete sich überrascht in dem Stuhl auf, auf dem er gesessen und versucht hatte, mehrere Stifte, die er in der Bibliothek gefunden hatte, zu einem Turm zu stapeln. Als er die zwei jungen Frauen sah, die hereingekommen waren, verfinsterte seine Miene sich. Es waren Dul Veyvey und vermutlich eine ihrer Dienerinnen. Beide trugen Kleider in den Farben der Dul-Gilde, wobei das der ersteren jedoch um einiges prächtiger und schmuckvoller war. Zusätzlich hatte sie ihre Haare zu einer komplizierten Frisur geflochten und mit mehreren Spangen hochgesteckt. Darunter auch die goldene, die sie bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte. In einiger Entfernung zu ihm blieben sie stehen.
»Ich habe keine Angst vor dir«, sagte Dul Veyvey auf einmal und musterte ihn dabei von oben bis unten.
»Das ist schön«, antwortete Rin Verran und wich ihrem Blick aus. »Es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«
Rin Verran warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Das, was am Phönix-Hof passiert ist. Ich kann es dir nicht erklären, aber du kannst mir glauben, dass ich normalerweise nicht so bin.« Er hatte beschlossen, niemandem davon zu erzählen, dass eigentlich Rin Raelin für alles verantwortlich war. Wobei er sich immer noch fragte, wie sein Bruder das überhaupt durchziehen konnte ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Er war nicht mal gekommen, um sich zu entschuldigen. Hätten Vater und Rin Narema mich nur mit ihm reden gelassen!
»Das sagen alle Männer und am Ende sind sie trotzdem alle gleich«, entgegnete Dul Veyvey schnippisch. »Schauen den Röcken hinterher und fragen sich, wie sie am besten an das ran kommen, was dadrunter ist.«
Rin Verran schmunzelte.
»Normalerweise weine ich auch nicht so schnell«, fuhr Dul Veyvey fort. »Und jetzt sagst du wahrscheinlich, dass das alle Frauen behaupten und am Ende trotzdem alle gleich sind.«
»Jetzt hast du es ja schon gesagt.«
Dul Veyvey rümpfte die Nase und starrte ihn mit einer Mischung aus Wut und Empörung an. »Weißt du, in gewisser Weise bin ich dir eigentlich sogar dankbar, dass du so ein Schwein bist. Ich habe gehört, dass dein Bruder ein ziemliches Arschloch ist und so einen möchte ich nicht heiraten.«
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...