Als Rin Verran am nächsten Morgen das Unterrichtszimmer im ersten Stock betrat, war Sun Shimei bereits da. Der Junge saß mit gerade durchgestrecktem Rücken und aufgeregt leuchtenden Augen am vordersten Tisch. Er hatte seine fast schon Lumpenkleidung gegen Hose und Hemd in den Farben der neuen Rin-Gilde ausgetauscht, die ihm offenbar sehr zu gefallen schien.
»Meister Rin!«, rief er sogleich. »Was werden wir heute durchnehmen? Den Kodex? Wie man erfolgreiche Verhandlungen führt? Unterschiede zwischen den verschiedenen Gilden?«
Rin Verran schmunzelte fast, wurde dann jedoch wieder ernst. Rin Raelin und er hatten damals in der Gämsen-Pagode ihre eigene erste Unterrichtsstunde verpasst, weil sie den Zettel mit der Uhrzeit übersehen hatten. Demnach war er sich nicht sicher, mit welchem Thema man normalerweise anfing. Er hatte zwar als Strafe die ganzen Hefte abschreiben müssen, aber als ob er sich den Inhalt davon gemerkt hatte... Stattdessen kam ihm in den Sinn, dass Meister Jhe ihm relativ an Anfang schon von der Auslöschung der Mehn-Gilde erzählt hatte.
»Gerechtigkeit«, sagte er und begriff erst beim Geräusch der über Papier kratzenden Schreibfeder, dass er es laut ausgesprochen hatte. Er ist wirklich fleißig. »Das brauchst du nicht aufzuschreiben. Es ist eine mündliche Lektion.«
Sofort legte Sun Shimei die Feder beiseite und schaute ihn aufmerksam an, die Stirn vor Konzentration leicht gerunzelt, was bei ihm jedoch eher komisch aussah.
»Was, denkst du, ist Gerechtigkeit?«
»Dass jeder das bekommt, was er verdient!«, antwortete Sun Shimei blitzschnell. »Kriminelle werden bestraft und Rechtschaffene belohnt!«
»Und woher weißt du, ob jemand das eine oder das andere ist?«
»Man...« Der Junge blinzelte leicht verwirrt. »Man weiß sowas doch. Wenn jemand einen anderen getötet hat, ist er kriminell. Wenn jemand einem anderen geholfen hat, ist er rechtschaffen.«
»Und wenn viele sagen, dass jemand kriminell ist, du aber weißt, dass derjenige unschuldig ist?«
»Dann sorge ich dafür, dass er nicht bestraft wird!«, antwortete Sun Shimei entschlossen.
»Auch, wenn du dich dafür gegen deine eigenen Leute stellen musst?«, hakte Rin Verran nach. »Wenn du dich gegen die ganze Welt stellen musst und dabei womöglich sogar stirbst?«
Der Junge riss erschrocken die Augen auf, erhob sich dann jedoch von seinem Stuhl und sagte fest: »Ich werde nicht zulassen, dass ein Unschuldiger bestraft wird! Niemals! Selbst wenn ich bei dem Versuch, ihn zu beschützen, sterbe!«
Oh du unwissender Junge, dachte Rin Verran, bewunderte ihn aber für seinen Mut. Er hatte sich nicht getäuscht, was Sun Shimeis gutes Herz anging. »Gut«, sagte er. »Erinnere dich an deine Worte. Sie werden dich dein Leben lang begleiten. Tu nie etwas, was du im Nachhinein bereuen wirst. Mach...« Nicht dieselben Fehler wie ich, wäre es ihm beinahe rausgerutscht. »Mach das, was du für richtig hältst.«
Sun Shimei verbeugte sich eifrig. »Ja, Meister Rin!«
»Setz dich wieder hin.« Er überlegte kurz und fügte möglichst freundlich hinzu: »Du brauchst mich nicht immer mit ›Meister Rin‹ anzureden. Einfach nur Rin Verran reicht.«
Der Junge nickte und schaute ihn wieder mit erwartungsvollen Augen an. Er war offensichtlich hungrig nach Wissen. Das war ziemlich ungewöhnlich für jemanden, der aus einer einfachen Arbeiterfamilie kam. Die meisten sahen entweder voller Neid zu den Erzwächtern auf, zu denen sie nie gehören würden, oder ignorierten sie den Großteil der Zeit, bis sie irgendwann ihre Hilfe benötigten. Diese Einstellung war seit dem Krieg fast überall anzutreffen. Vorher waren die Erzwächter noch von allen bewundert, geachtet und respektiert worden, doch das hatte sich jetzt geändert. Dass Sun Shimei lesen und schreiben konnte war ebenfalls beachtlich.
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...