Kapitel 71: Wissen - Teil 2

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»Wir machen heute früher Schluss.«

Als Rin Verran das verkündete, hob Sun Shimei ruckartig den Kopf, wobei die Feder in seiner Hand einen unschönen Strich auf dem Papier hinterließ, das er gerade beschrieb. Seine blauen Augen sahen ihn mit einer Mischung aus Schreck und Enttäuschung an.

»Warum? Es sind noch nicht mal zwei Stunden vergangen!« Eine leichte Panik machte sich auf seinem Gesicht breit. »Habe ich irgendwas falsch gemacht? Ich werde mir mehr Mühe geben! Wirklich! Ich kann noch mehr lernen! Ich... Ich kann alle Bücher auswendig lernen! Das ist kein Problem! Ich bin gut darin, mir Sachen zu merken! Ich kann... Ich kann...«

Rin Verran schnitt ihm das Wort ab: »Es liegt nicht an dir. Ich habe nur einige andere Sachen zu tun.«

»Ich kann Euch helfen!« Sun Shimei stand auf und verbeugte sich entschlossen in seine Richtung. »Ihr müsst mir nur sagen, was ich tun soll!«

»Ich fürchte, das sind Sachen, bei denen du mich eher behindern würdest«, entgegnete Rin Verran möglichst freundlich. Trotzdem sackten Sun Shimeis Schultern enttäuscht ein Stück runter. »Es geht um etwas, das niemand sonst erfahren darf. Tut mir leid.«

»Ich bin gut darin, Geheimnisse zu bewahren!«, rief der Junge. »Bitte! Ich möchte Euch helfen!«

Rin Verran seufzte. Sun Shimei war wirklich stur und es war auch nicht das erste Mal, dass er darauf bestand, ihm bei etwas zu helfen. Bisher waren es jedoch eher kleine Aufgaben gewesen. Einige Bücher in der Schriftensammlung abstauben und sortieren, den Hof fegen, den Pferden neues Wasser aus dem Quellensee bringen. Er hatte alles gehorsam und ohne sich zu beschweren getan. Es sah fast so aus, als würde es ihm sogar Freude bereiten, seinem Meister bei allem Möglichen zu helfen. Immer wieder beteuerte er, dass er Rin Verran sein Leben verdankte und die Schuld abtragen musste, in der er bei ihm stand. Gleichzeitig fürchtete er, seinen Meister mit jeder falschen Antwort oder falschen Bewegung zu verärgern, sodass er ihn wegschicken und als Schüler verstoßen würde, was Rin Verran aber überhaupt nicht vorhatte.

Rin Verran schaute Sun Shimei eine Weile an, wie er mit gesenktem Kopf vor ihm stand und auf eine Antwort wartete. Er hat ein gutes und aufrichtiges Herz. Es wird niemandem schaden, wenn er bei meinem Gespräch mit Arcalla als Zeuge dabei ist. Außerdem ist er schlau und vernünftig. Vielleicht wird er Zusammenhänge entdecken, die ich übersehen habe.

»Setz dich«, sagte er schließlich, was Sun Shimei auch sofort tat. Er schaute seinen Meister aufmerksam an. »Bestimmt hast du mitbekommen, dass heute ein Wagen mit einem Gefangenen ankommen wird, den ich im Kerker einschließen werde.«

Sun Shimei nickte. »Alle reden davon.«

Natürlich reden alle davon, dachte Rin Verran schlecht gelaunt. Veyvey konnte noch nie ihren Mund halten. Zum Glück hat sie aber nicht ausgeplaudert, wer sich in diesem Wagen befindet. Es war schon schwierig genug gewesen, Ghan Shedor davon zu überzeugen, Arcalla überhaupt in den Rothirsch-Turm zu überführen. Letztendlich war es Ghan Edhor gewesen, der seinen älteren Bruder dazu überredet hatte. Es waren irgendwelche Argumente gewesen wie »In den Bergen ist eine Flucht noch schwieriger« und »Der Kerker des Krähen-Palastes hat wichtigere Gefangene«. Eigentlich hätte Rin Verran gerne auch Ghan Edhor zu sich eingeladen, um seine Meinung zu hören, sollte Mahr Ledjas Geschichte sich wirklich als wahr herausstellen, aber ihm war kein logischer Grund eingefallen, aus dem er Ghan Edhor hätte zu sich bitten sollen und es letztendlich gelassen.

»In dem Wagen befindet sich Dul Arcalla«, offenbarte Rin Verran, woraufhin Sun Shimeis Augen sich vor Überraschung weiteten.

»Fräulein Dul? Warum sie? Warum nicht Euer Bruder? Alle denken, Ihr holt Euren Bruder her, um die letzten Konflikte mit ihm endgültig zu lösen.« Zum Ende hin wurde seine Stimme immer leiser, weil er Rin Verrans scharfen Blick bemerkte, und verstummte dann ganz.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt