Kapitel 69: Unschuld - Teil 10

85 12 3
                                    

Zwei Jahre später im Rothirsch-Turm der Mahr-Gilde.

Die ganze Reise von den Inseln der Dul-Gilde zurück zum Rothirsch-Turm kam Mahr Ledja sich vor wie in einem Traum. Ihre Augen starrten ins Leere, ihre Hände waren verkrampft. Die anderen dachten vermutlich, dass es wegen des Angriffs der Drachenklauen und des Todes von Gilden-Anführer Ghan war, aber das war es nicht. Es war, weil sie erfahren hatte, dass Ghan Minue schwanger war. Ein Kind erwartete. Der Schrecken in ihrem Herzen wollte einfach nicht weg gehen. Fraß sich in sie hinein und wütete in ihrer Brust wie ein wildes Tier. Sie konnte niemandem sagen, warum es so schrecklich war, warum sie fürchtete, gleich aus der Kutsche steigen und sich übergeben zu müssen. Es war zu spät, um noch irgendwas zu verhindern. Alles war schon passiert. Und es kam keine Hoffnung auf ein glückliches Ende. Es war unnatürlich. Es war falsch. Dieses Kind durfte nicht geboren werden. Auf keinen Fall!

»Denkt ihr, die Drachenklauen werden wiederkommen?«, hörte sie draußen einen der Diener fragen, der sie begleitete.

»Keine Ahnung«, antwortete eine junge Frau. »Ich hoffe nicht. Was, wenn sie es auf alle Gilden-Anführer abgesehen haben? Werden sie dann auch zum Rothirsch-Turm kommen?«

»Niemand weiß, wer sie sind. Vielleicht ist eine von ihnen schon unter uns und wartet nur auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen.«

»Mach mir nicht so eine Angst!«

»Ich sage nur die Wahrheit! Es ist immer noch nicht klar, was den Brand in Peito verursacht hat. Vielleicht waren das auch die Drachenklauen. Die fackeln doch sonst immer alles ab.«

»Peito? Du meinst diese komische Stadt...«

»Ja. Schade um die Frauen, die in den Flammen dort umgekommen sind. Einige hatten es echt drauf.«

»Was? Sag mir nicht, dass du schonmal da warst! Wie eklig!«

Der Diener schnaubte, woraufhin die junge Frau ein »Du bist blöd« zischte.

Mahr Ledja sank noch weiter in sich zusammen. Peito. Sie hatte den Brand selbst gelegt. Es durften keine Spuren übrig bleiben. Sie hatte sich gestählt und war sofort davongeeilt, nachdem die ersten Flammen das Bordell erfasst hatten. Sie hatte die Schreie nicht hören wollen, aber woher hätte sie wissen sollen, dass sie so laut sein würden? Diese Schreie suchten sie immer noch heim. Fast jede Nacht mittlerweile. Mahr Hefay war schon so genervt davon, dass er jetzt gar nicht mehr zusammen mit ihr in einem Zimmer schlief. Er war freiwillig in das daneben gezogen. Und jetzt fuhr er auch in einer anderen Kutsche als sie, zusammen mit Mahr Xero, der seinen Vater bestimmt wieder anflehte, einen Verlobungsantrag zur Dul-Gilde zu schicken.

Die Kutsche ruckelte ein letztes Mal und hielt an. Es war schon dunkel draußen. Mahr Ledja stieg aus und wartete auf einen der Diener, der ihr mit einer Fackel den Weg zum Tor des Rothirsch-Turms leuchten würde. Ihr Gesicht musste in der Nacht so bleich wie das eines Geistes aussehen, denn der junge Mann riss erschrocken die Augen auf, sagte aber nichts. Eine frische Brise ließ die Ketten an Mahr Ledjas Kopfschmuck tanzen und sie erschauerte.

Im Rothirsch-Turm angekommen stieg sie die Treppe hoch. Jede Stufe erschien ihr wie ein riesiger Berg. Jeder Schritt war eine Qual, eine äußerste Anstrengung. Sie hatte keine Ahnung, was die Diener und Anhänger der Mahr-Gilde dachten, als sie sie so sahen, doch es war ihr egal. Sie wollte einfach nur, dass dieser Albtraum zu Ende ging. Dass alles aufhörte. Dass es dieses Kind nicht gab...

Wie von selbst schoben ihre Hände den Stuhl vor den Schrank und tasteten nach dem roten Band mit dem Flammenmuster. Es war staubbedeckt und zerknittert. Gedankenlos starrte sie es an.

»Der Albtraum wird enden«, hatte Dalja gesagt. Und »Behalte das Band dennoch. Vielleicht änderst du deine Meinung ja noch.«

Vielleicht ändere ich meine Meinung noch, dachte Mahr Ledja und schloss die Faust um ihre einzige noch vorhandene Hoffnung. Um ihre Rettung.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt