49. Kapitel (Albus): Der Patronus

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Gellert schlug die Augen so plötzlich wieder auf, dass ich zusammenzuckte. Für einige Sekunden sah er mich nur an. Dann sagte er: "Du weißt, was ich gesehen habe." Wusste ich das? Kurz blickte ich ihn planlos an, bevor es mir klar wurde. "Es war Gina, oder?", fragte ich leise. Er schluckte und warf den Kopf hoch. "Ja. Es war der schlimmste meiner Albträume. Jetzt ist die glücklichste Erinnerung dran. Aber... das Problem ist, dass ich keine mehr habe, die es mit diesem Albtraum aufnehmen kann. Vor allem, da ich ihn jetzt wieder vor Augen habe." Oh. Oh-oh. Das war... nicht gut. Gar nicht gut. Überhaupt nicht gut. "Vorher ging es?", wollte ich wissen. "Tat es. Denn da hatte ich diese Erinnerung, diesen Albtraum, in den hintersten Winkel meines Bewusstseins gesteckt. So weit weg, dass ich eigentlich geglaubt habe, nie wieder dran zu kommen. Naja, immerhin ist meine Seele nicht 'gebrochen'. Jedenfalls soweit ich das jetzt schon beurteilen kann.", seine Worte waren so gelassen, als spräche er über Kuchen und nicht über Albträume und das 'Brechen' der Seele. "Und jetzt? Was wirst du jetzt machen? Wegen der glücklichen Erinnerung, mein ich.", fragend zog ich die Augenbrauen nach oben. Auf meine Frage hin richtete er seine unergründlichen, durchdringenden, zweifarbigen Augen auf mich. "Ich hätte da etwas. Wenn du mich lässt.", gab er zurück. "Dich lassen?", wiederholte ich. "Wieso? Hat's was mit mir zu tun?"
"Ja."
Oh. Aha. "Direkt oder indirekt?", wollte ich wissen. Mit einem Seufzen verdrehte Gellert die Augen, als würde meine Frage ihn nerven, doch er gab mir bereitwillig eine Antwort: "Direkt." Als ich ihn daraufhin nur ansah, wie ein Muggel, dem man von der Magie erzählte, grinste er. "Mein Lieber, wie offensichtlich muss ich noch werden, damit du es verstehst?" "Du musst es mich ja nicht verstehen lassen. Mach es doch einfach.", ich schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. Eigentlich war die Situation viel zu ernst für irgendwelche Neckerei, aber das war bei uns einfach Standard. Denn er liebte es, mich zu necken und zu reizen. Aber ich auch. "Einfach machen? Gut, wenn du das sagst. Aber verhau mich nicht.", er blickte mich abwartend an. Ich tat, als müsste ich zuerst darüber nachdenken. "Gut. Von mir aus.", stimmte ich dann zu. "Hervorragend.", er bedachte mich mit seinem strahlensten Lächeln. Dann küsste er mich. So sanft, als wäre ich aus Glas. So behutsam, als hätte er Angst, dass ich mich ihm entzog. Doch das tat ich natürlich nicht. Nach einigen Sekunden zog er den Kopf wieder zurück und fuhr fort, als wäre nichts passiert. "So. Das hätte ich dann auch. Bedingung Nummer Zwei auf der Liste abgehakt. Jetzt könnte es wieder klappen." "Was? Deinen Patronus zu rufen?", hakte ich aufgeregt nach. Gellert nickte langsam. "Könnte, Al-Liebling. Könnte. Nicht wird. Es ist schließlich unsicher, ob dieser Weg überhaupt funktioniert. Wenn ja, gut so. Wenn nicht... Habe ich umsonst die schlimmste Erinnerung wachgerufen, die ich habe." "Versuch's... Nein. Mach es einfach. Und wag es nicht, an dir zu zweifeln. Ein Patronus hat viel mit Selbstvertrauen zu tun, Gellert.", antwortete ich sofort und grinste ihn an. "Sieh an", er zog den Elderstab "du hast mir ja tatsächlich zugehört." "Es ist ja auch unmöglich, dir nicht zuzuhören.", murmelte ich, gerade laut genug, dass er mich hörte. "Übertreibe es nicht.", mahnte er sanft und schüttelte sachte den Kopf. "Tu ich nicht.", widersprach ich. "Wenn du das sagst.", erwiderte er nur und setzte hinzu: "Expecto patronum!" Ich verstand, was er mit 'Betonung' gemeint hatte. Wenn er die Formel sprach, klang es nicht nach 'erwarten', nicht nach 'bitten', nicht nach 'versuchen'.
Nein.
Es klang nach 'rufen', nach 'verlangen', nach 'machen'. Gellert Grindelwald kannte die Wirkung seiner Aura und seines Charismas ganz genau. Er war sich bewusst, dass er mit dieser Ausstrahlung leicht seine Worte in die Köpfe anderer Menschen weben, sie manipulieren konnte.
Ein einzelner Silberfaden entsprang dem Elderstab, ein Funke flackerte.
Noch ein Silberfaden.
Bitte.
Bitte komm.
Es musste geklappt haben.
Ich hatte gesehen, wie sehr ihn die Erinnerung an seine Schwester geschmerzt, wie sehr sie ihn gequält hatte. Das durfte nicht umsonst gewesen sein. Das konnte gar nicht umsonst gewesen sein. Oder? Was, wenn doch? Im gleichen Moment erklang ein melodischer Schrei.
Es war der Schrei eines Phönix.
In einem einzigen Feuer aus Silber-weiß und Blau kam er.
Flammen tropften von seinen Schwingen, Silberfunken, Silberfäden flogen hinter ihm her.
Der Patronus.
Mächtiger denn je.
Gellert wandte mir seinen Blick zu. "Er ist es!", stieß er flüsternd hervor. "Er ist es, Al! Und... er ist... Noch schöner als vorher!" "Ich wusste, dass es klappt.", behauptete ich. Darauf warf er mir einen Blick aus seinen zweifarbigen Augen zu, der eindeutig sagte: 'Ist das dein Ernst?' Nein. War es nicht. Das wussten wir beide. "Was glaubst du", überlegte ich laut "was passiert, wenn zwei gleiche Patroni sich treffen?" "Sie sterben! Nein, schlechter Witz, ich weiß. Keine Ahnung. Probier es doch einfach mal aus.", in seinen Augen funkelte diese Experimentierfreude, die er schon damals gehabt hatte. "Zu Befehl, Herr Zaubereiminister!", spottete ich und salutierte. Arrogant warf er das Kinn höher und sah mich herablassend an. "Das will ich auch hoffen, Auror.", sagte er kalt. Dann starrten wir uns an. Natürlich fing ich als erster an zu lachen. Wie immer. "Gellert", jammerte ich, während ich lachte "hör auf! Wir sind vierzig Jahre zu alt für sowas!" "Erstens", erwiderte er wie aus dem Zauberstab geschossen "habe ich dir nicht gesagt, dass du lachen sollst. Zweitens: Wer sagt das? Drittens: Jetzt ruf endlich deinen Patronus. So. Jetzt bist du aber sprachlos." "Nein.", ich schüttelte den Kopf. Doch anschließend war ich 'brav' und rief meinen Patronus.
Die beiden Phönixe umkreisten sich.
"Sieht fast so aus, als würden sie Fangen spielen.", stellte Gellert fest. "Stimmt.", gab ich ihm Recht. Einige Sekunden schwiegen wir, sahen nur unseren Patroni zu. Schließlich fragte ich: "Was ist eigentlich dein Irrwicht?" Überrascht blickte Gellert mich an. "Mein Irrwicht? Du." "Bitte? Ich?", ich sah ihn an, als wäre von allen guten Geistern verlassen. "Naja.", relativierte er nun. "Nicht direkt du." "Aber?", hakte ich interessiert nach. "Schon du.", sagte er. "Aber... Eben du, wenn du tot bist." Oh. Ohhhh. Sekunde... Was?! "Mich? Tot? Na super. Eine Vision oder was?", wollte ich wissen. Zu meiner Erleichterung schüttelte er den Kopf. "Nein. Keine Vision. Einfach nur du, tot. Wieso fragst du? Was ist deiner?" "Ich weiß nicht genau.", gab ich zu. "Aber... ich glaub, es wäre... Ariana. Wie sie sagt, dass... ich es war. Auch, wenn ich weiß, dass es nicht stimmt. Mhm. Wobei, jetzt, da ich das weiß... Vielleicht hat sich mein Irrwicht ja auch geändert." "Möglich. Ich bin mir bei meinem ziemlich sicher.", er blinzelte, erwiderte meinen Blick und legte einen Arm um mich. Nach kurzem Zögern lehnte ich den Kopf an seine Schulter. "Verzeihst du mir?", flüsterte er plötzlich. "Was? Was denn?", ich war irritiert. "Alles.", antwortete er leise. "Alles, was ich dir und der ganzen Welt angetan habe." Ich zögerte. Sollte ich? Wusste ich denn, dass er nicht doch nochmal etwas Finsteres tun würde? Nein, tat ich nicht. Aber ich würde es ihm verzeihen. Ich hatte es ihm verziehen. "Hab ich schon.", erwiderte ich darum. Darauf sagte er nichts mehr, doch ich wusste, dass es ihm mehr als viel bedeutete.
Plötzlich disapparierte jemand.
Absolut zeitgleich wandten Gellert und ich uns um.
Es war Melissa.
Ihre braunen Haare waren zerzaust, auf ihrer Wange prangte ein blutiger Schnitt, ihre dunkelgrünen Augen loderten wie Feuer. "Was?! Ich... dachte du bist tot!!", stieß sie hervor und starrte Gellert an wie eine Erscheinung. "Ablenkungsmanöver für das Ministerium.", antwortete er kurz. "Was ist los?" Auf seine Frage hin stöhnte sie auf, als würde es ihr unendliche Schmerzen bereiten. "Die Auroren, die meinem Bruder die ganze Zeit noch treu ergeben sind... Sam hat sie gefunden. Ihr Anführer heißt Joseph Greengrass. Es sind insgesamt fünfundzwanzig. Es... Sam... Er...", sie zog den Atem ein. "Melissa. Beruhige dich. Was ist?", ich sah sie an. Sie riss die Augen auf und funkelte mich an wie eine Wahnsinnige. "Du verstehst es nicht!", schrie sie. "Du verstehst es nicht, Albus! Und du auch nicht, Gellert! Es sind insgesamt fünfundzwanzig Auroren! Sam hat sie gefunden. Alleine. Sie waren auf Krawall gebürstet. Da hat er mich um Hilfe gerufen. Es-", ihre Stimme zerbrach mitten im Satz, sie biss die Zähne zusammen. "Weiter.", sagte Gellert sanft. Seine Stimme war wie eine kühlende Brise. Melissa holte einige Male tief Luft und sammelte sich. Dann sah sie uns wieder an. Erschrocken erkannte ich, dass Tränen in ihren tiefgrünen Augen glänzten. "Es ist wegen Sam.", flüsterte sie erstickt. "Er ist tot."

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt