68. Kapitel (Gellert): Die Gleichung des Schicksals

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Gab es Wege, um der Zukunft aus dem Weg zu gehen?
Gab es Wege, um die Zukunft zu verhindern? Vor allem, wenn die Wahrscheinlichkeit 99% war?
Ich kannte die Antwort, schließlich hatte ich über vierzig Jahre Erfahrung.
Nein. Keine meiner Visionen ließ sich verhindern. Und gerade hatte ich eine Vision gehabt. Es war mit Abstand eine der schrecklichsten gewesen. Nicht einmal die, in der ich den Todesfluch gesehen hatte, der mich getroffen hatte, hatte mich so entsetzt zurückgelassen wie diese. Es gab nur eine Vision, die es an Grauenhaftigkeit mit dieser aufnehmen konnte. Jene, vom 15. Juli 1899. Als ich gesehen hatte, wie Albus und ich uns als Feinde gegenüberstanden. Diese hier...
Mit einem Seufzen schloss ich kurz die Augen.
Mhm.
Schlechte Idee.
Ruckartig blinzelte ich wieder.
Doch ich konnte die Bilder nicht vertreiben, die das Zweite Gesicht mir vor mein inneres Auge gesetzt hatte. Bei den Heiligtümern, ich hatte die Vision doch schon gesehen! Tja. Vielleicht war es auch gar nicht das Zweite Gesicht sondern mein eigenes Entsetzen, dass das tat. Ich seufzte erneut. Seit Minuten stand ich reglos an der Mauer, die den Vorhof meines Schlosses eingrenzte. Ohne Regung. Was ich fühlte, in diesem Moment, in dem das Zweite Gesicht seine ganze Grausamkeit zeigte?
Nichts.
Einfach nichts.
Nur ein kribbelndes, brennendes Stechen in meiner Seele. Hass. Hass auf mich selbst. Weil meine Macht nicht ausreichte, um meine Vision zu verhindern. Denn es war zwecklos, selbst wenn ich Coral Everdal töten würde... Meine Vision würde dennoch wahr werden. Blinzelnd verzog ich die Lippen und schluckte. Aber Hass ließ sich nicht verschlucken. Hass und Zorn. Auf mich. Auf Coral Everdal.
Ich wollte nichts lieber tun als meinem Hass den Raum zu geben, den er verlangte.
Ich wollte töten.
Den Todesfluch aussprechen, die Worte zerfließen lassen, das grüne Aufblitzen sehen und dann... Wie herrlich es doch wäre, zu sehen wie das Licht in den Augen meiner Feinde verging. Die Dunkelheit hob den Kopf, wie ein riesiges Tier, blinzelte, sog die Luft ein, knurrte und fletschte die Zähne. Oh ja! Zu gerne wollte ich sie frei lassen.
Mein Hass, meine Dunkelheit, brachte meine Magie zum Kochen. Sie wollte frei sein, den Elderstab benutzen um ihre Macht mehr als zu verdoppeln.
Blut.
Coral Everdal würde so viel Blut vergießen, hatte es schon getan. Warum gab mir das nicht das Recht, ihres zu vergießen? Es in heißen, roten Tropfen spritzen zu lassen. Die Luft mit der Schwere des Eisens zu durchtränken. Zu sehen, wie das Blut aus ihrer Kehle rann, zäh zu Boden tropfte.
Ich tat es nicht, nein.
Stattdessen biss ich die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat.
Stattdessen umklammerte ich den Elderstab so fest, dass es schmerzte.
Es war nicht gerecht.
Ich wollte sehen, wie das Blut der Leiterin der Abteilung für magische Strafverfolgung den Boden benetzte, wie es in Perlen zu Boden rann. 
Nein.
Ich tat es nicht.
Nein.
Die Finsternis in mir schrie nach Blut. Nach dem metallenen Geschmack der Angst. Nach dem leisen, entsetzten Schrei. Dem letzten. Nach den aufgerissenen Augen meiner Feinde.
Nein.
Ich tat es nicht.
Nein.
Aber lange würde ich meine Gier nach Blut nicht mehr bezähmen können. Nicht nach irgendwelchem. Sondern nach dem Blut von Coral Everdal. Ob es genauso süß war, wie das meiner Mutter? Ihr Blut hatte gespritzt, als ich sie getötet hatte. Ich hatte es mir von den Lippen geleckt und ihre Kälte war meine geworden. War sie vorher schon. Aber von diesem Moment an... für immer. Nein, nein, nein. Energisch schüttelte ich den Kopf, als könnte ich so die Dunkelheit davon überzeugen, wieder zu verschwinden. Doch wie, wenn ich gleichzeitig nach ihr verlangte? Wenn ich zeitgleich wollte, dass sie da war?
Hass brannte wie Feuer und verschlang sämtliche, andere Gefühle.
Sekunde... Feuer?
Ja.
Feuer.
Es war Zeit für einen Zauber, den ich seit mindestens zwei Monaten nicht mehr angewandt hatte.
Höchste Zeit.
Allerhöchste Zeit, um genau zu sein.
Obwohl ich wusste, dass meine Vision es begrüßen würde, schloss ich die Augen und rief meine dunkle Seite zu mir. Dann zischte ich die Worte und stellte mir vor, es wäre kein Zauber sondern der Name.
Der eine Name.
Coral Everdal.
"Protego Diabolica!"
Bei den Heiligtümern, ich hatte ganz vergessen, wie wunderbar dieser Zauber sich sprach.
Blau-weiße Schatten flackerten und ich blinzelte. Ein leichtes Lächeln huschte über meine Lippen, ich ließ mich auf ein Knie nieder und strich mit der freien linken Hand durch die Flammen. Sie zischten, flüsterten Worte der Dunkelheit. Sie begrüßten mich. "Ich habe euch wohl ein bisschen vernachlässigt, nicht?", murmelte ich und sah grinsend zu wie die Flammen um meine Finger spielten. Immer noch lächelnd stand ich wieder auf und wechselte, als ich nun erneut sprach, in die Runensprache über: "Syfirtan mylonir samdja vyrconvy amaris jatamry." Die blau-weißen Flammen schlugen höher, ihr dunkles Flüstern wurde zu einem Kichern. Übersetzt bedeutete das, was ich gerade gesagt hatte ungefähr so viel wie 'Sucht sie, findet sie. Verbrennt sie. Tötet sie.' Aber nur ungefähr. Denn es gab keine genaue Entsprechung in Englisch. Auch nicht in Deutsch, Französisch oder Bulgarisch. Weiterhin leise kichernd zogen die Flammen davon, hinterließen nichts als blau-weiße Funken die durch die Luft schwebten, langsam zu Boden fielen und schließlich erloschen.
Ich seufzte tief.
Besser.
Mein Hass war immer noch da, brennend, heiß und kalt zugleich. Aber ich war nun wieder in der Lage, ihn zu bezähmen. Blinzelnd gab ich meiner Dunkelheit den Befehl, zu gehen. Darauf zog sich meine dunkle Seite wieder zurück und die Finsternis in mir bleckte ein letztes Mal die Zähne und legte den Kopf auf die Vorderpranken, um wieder zu schlafen. So lange, bis ich sie wieder rufen würde. "Myran endayæ vynovyr daryn.", flüsterte ich. 'Ich werde dich beschützen.' Mit allem, was ich hatte. Mit allem, was ich nicht hatte. 
Wenn ein Duell nötig war, um Albus zu schützen, würde ich es tun. 
Wenn ich endgültig sterben musste, um ihn zu schützen, würde ich es tun.
Aber das Duell... wäre nicht nötig, das spürte ich. 
Es wäre nicht nötig. 
Eigentlich war es komplett unsinnig und absolut überflüssig.
Wie immer spürte ich seine Anwesenheit, noch bevor er wusste, dass ich wusste, dass er da war.
Ohne mich umzudrehen sagte ich: "Ich nehme mal an, dass ich in diesem Schloss nicht der einzige bin, dem diese Nacht den Schlaf nicht gewährte?"
"Du hättest es auch deutlich einfacher sagen können. Aber ja.", antwortete Albus und blieb neben mir stehen. "Ich liebe es, Dinge kompliziert zu sagen. Das verwirrt die meisten Menschen und zeigt sofort auf, wer in dieser Welt zu mir kongenial ist.", gab ich zurück und richtete den Blick für einen Moment auf Nurmengards Turm. Auch ohne dass ich ihn ansah, wusste ich, dass er mich prüfend musterte. Schließlich stellte er fest: "Du hattest eine Vision."
"Korrekt.", erwiderte ich, ließ jede Emotion aus meiner Stimme verschwinden. "War's... schrecklich?", fragte er zögernd. "Schrecklich?", wiederholte ich und verengte die Augen. "Es war nicht schrecklich, Albus. Es war mehr als das." "Super.", murmelte er ironisch. "Was hast du gesehen?"
Auf seine Frage hin wandte ich mich zu ihm um und hielt seine Augen mit meinen fest. "Unser Duell, Al."
"Was? Wieso? Was... Was ist damit?", verwirrt suchte er meinen Blick, doch ich wandte ihm den Rücken zu und starrte ins Nichts. "Das Schicksal ist wie eine Gleichung. Eine Gleichung, für die eine bestimmte Menge von Variablen benötigt werden. Du und ich, wir sind wie x und y. Ohne uns kommt es nicht zu dem Ergebnis, dem Duell. Ich kann keine Gleichung ausrechnen, in der eine entscheidende Variable fehlt. Es ist unmöglich, ein Ergebnis zu bekommen, wenn die Gleichung x und y beinhalten muss, aber nur x oder y da ist."
"Was willst du mir damit sagen?", fragte er leise, da war ein erschrockener Unterton in seinen Worten. Ich antwortete ihm, ohne mich wieder zu ihm umzudrehen. "Das Duell kann nur stattfinden, wenn wir beide da sind. Ist es einer von uns nicht, gibt es auch kein Duell.", sagte ich, genauso leise. "Aber... ich dachte, der Zukunft deiner Visionen kann man nicht entkommen.", flüsterte er. "Nicht auf sanfte und übliche Art und Weise.", gab ich zurück, ließ die Härte der Entschlossenheit in meine Stimme fließen.
"Wie denn dann?", Albus' Worte zitterten.
"Nur auf eine solch radikale Art und Weise, dass niemand sie bisher gewagt hat. Nicht einmal ich. Aber nun bin ich bereit, es zu tun.", erwiderte ich ihm und fuhr fort. "Die Gleichung geht nur auf, unser Duell kommt nur zu Stande, solange x und y, wir beide, da sind. Doch was, Al, was passiert, wenn ich einen der beiden Variablen wegnehme?"
"Wegnehmen? Wie das?!", jetzt klang er unüberhörbar schockiert.
Ich lächelte kalt. "Kein Versteck schützt vor dem Schicksal meiner Visionen, kein Zauber. Nichts. Außer eines. Eines schützt."
"Und das wäre?", er sagte es langsam, als müsste er sich zwingen, zu sprechen.
Darauf lachte ich kurz auf. Ein hartes, bitteres, kaltes Lachen. "Nur eines, Liebster.", ich machte eine kurze Pause, bevor ich meine Antwort beendete. "Der Tod."
Kurze Stille.
Dann: "Was?!"
"Natürlich.", gab ich zurück, immer noch ohne ihn anzusehen. "Ein Duell, bei dem es nur einen gibt, ist kein Duell. Wenn einer von uns stirbt, wird es auch kein Duell geben."
"Oh nein, Gellert. Dazu ist der Preis viel zu hoch.", widersprach er. "Wer sagt denn, dass du sterben sollst?", antwortete ich.
"Gellert, bist du verrückt geworden?! Nein! Bevor du dich oder ich mich umbringe, nur um dieses dumme Duell zu verhindern, duelliere ich mich lieber zum Schein mit dir." "Zum Schein?", wiederholte ich. "Du vergisst, dass Coral Everdal dich hasst. Wobei... du könntest Recht haben.", nachdenklich strich ich mir meine helle Strähne zurück und blickte ihn an. "Mit was?", hakte er nach.
"Es muss kein wirkliches Duell sein. Entscheidend ist das Ergebnis. Und Coral Everdal hasst dich, weil sie weiß, dass du mich liebst. Wenn ich weg bin, kann sie dich auch nicht mehr hassen. Das heißt, du müsstest mich im Duell schlagen. Dementsprechend müsstest du dann auch der Meister des Elderstabes werden. Und der der anderen Heiligtümer."
"Okay, okay, okay. Langsam. Schein-Duell? Gute Idee. Ich als Meister des Elderstabes? Weniger gute Idee. Ich als Meister aller Heiligtümer? Grauenhafte Idee.", er klang, als würde er den Kopf schütteln. Gleichgültig zuckte ich die Schultern. "Kein Problem. Dann schicke ich die anderen weg, wenn es soweit ist."
"Ach. Das geht so einfach?", er zog die Augenbrauen hoch, das hörte ich, als zweifelte er daran, ob ich die Wahrheit sagte. "Klar geht das einfach.", erwiderte ich. Einen Moment lang schwieg er. Schließlich fragte er: "Wann ist das Duell?" "Keine Ahnung.", ich schüttelte den Kopf. "Die Vision hat sich nicht angefühlt wie eine, die im nächsten halben oder ganzen Jahr wahr wird." "Oh.", murmelte Albus. "Das spürst du?" "Bis zu einem gewissen Grad. Ich kann dir nicht sagen, wann genau das Duell sein wird. Ich weiß nur, dass es noch ein bisschen hin ist. Genauso wie ich bei meiner letzten Vision - mit dem Todesfluch - wusste, dass es nicht mehr allzu lang war.", sagte ich ruhig. Erneut schwiegen wir einige Sekunden. "Das Leben ist ungerecht. Das Schicksal ist ungerecht.", meinte er dann. Ich stieß halb verächtlich, halb mitfühlend den Atem aus. "Wem sagst du das. Wir können die Gleichung unserer Bestimmung nicht ändern. Aber bis zu einem gewissen Grad können wir das Ergebnis beeinflussen.", ich senkte den Kopf und sah ihm in die Augen. "Hör mir zu.", fuhr ich flüsternd fort, legte eine Hand an seine Wange und zwang ihn auf diese Weise, meinem Blick standzuhalten. "Ich liebe dich über alles auf dieser Welt. Mehr als die Heiligtümer. Vielleicht sogar mehr als Gina - aber mindestens genauso so sehr. Ich würde jede Entscheidung, die ich in den letzten Monaten bezüglich uns beiden traf, wiederholen. Hass ist eine mächtige Emotion, Al. Und so hell mein Licht auch leuchtet, vergiss nie, dass in meinem Feuer des Lebens stets eine gewisse Dunkelheit - ein gewisser Hass - brennt. Diese Spur von Finsternis in meiner Seele, egal was ich tue, werde ich in diesem Leben nicht wieder los. Aber sie ist nicht stark genug, um mich zu vergiften. Nicht mehr. Oder sollte ich eher sagen 'Ich bin stärker als meine Finsternis'? Inzwischen, ja. Früher war meine Dunkelheit stärker als ich und ich weiß nicht, wie oft das Licht noch flackern wird. Denn wenn ich der Meinung bin, auf dunkle Pfade wechseln zu müssen, um zu verhindern, dass Coral Everdal dir und Melissa wehtut, so werde ich es tun." "Das wirst du nicht!", es klang wie ein Beschluss. "Oh, doch. Würde ich.", hielt ich gegen und bedachte ihn mit einem sanften, bitteren Lächeln. "Das ist verrückt.", stellte Albus fest. "Kann sein.", gab ich zu und legte den Kopf leicht schräg. "Aber Verrücktsein ist nunmal meine Spezialität." "Ich weiß.", er seufzte tief. "Darf ich ehrlich sein? Ohne dass du mich umbringst?", wollte er wissen. "Ja.", ich nickte. Erneut seufzte er. "Manchmal frag ich mich, warum ich mich ausgerechnet in dich so unsterblich verlieben musste. Schließlich war es lange genug sehr kompliziert zwischen uns und ich schätze, es wird immer komplex bleiben." "Du meinst, warum du dich nicht in jemanden verlieben konntest, der nicht die Dunkelheit so sehr liebte, wie ich? Der keine Massenmorde beging? Der nicht zum Schwerverbrecher wurde? Der nicht den Hass unauslöschlich un der Seele trägt? Gute Frage. Denkst du, ich habe mich das nicht schon auch gefragt? Warum du ausgerechnet mich liebst?", ich blinzelte, schob meinen Kopf ein bisschen dichter an ihn heran. "Hast du?", fragte er zurück, sein Blick ruhte auf meinen Lippen. "Habe ich.", sagte ich leise.
Wir brauchten keine Worte mehr. Nicht in diesem Moment.
Ich zog ihn zu mir und küsste ihn.
Es war ein sanfter Kuss, ohne brennendes Verlangen, ohne die Hitze ungezügelter Leidenschaft.
Als wir uns voneinander lösten, flüsterte er: "Ich weiß genau, warum ich mich in dich verliebt habe. Nur in dich und in keinen anderen."
"So?", ich lächelte. "Warum denn?"
Er grinste. "Alsoooo... Du kannst wirklich gut küssen, du bist ein arroganter Dummkopf, du bist manchmal ungesund selbstbewusst, du hast eine Überzeugungskraft an dir, dass ich dir gerne deine ganzen beruhigenden Worte abnehme, du bist frech, du bist schlauer als Travers, Starling und Coral Everdal zusammen - ich meine wir beide leben noch, das ist ja wohl Beweis genug. Abgesehen davon hast du eine mentale Stärke, die einem umhaut und eine Willenskraft, mit der ich mich lieber nicht anlegen würde. Du bist äußerst gut im Wortspielen, von deiner Ironie ganz zu schweigen. Über dein Charisma reden wir erst gar nicht, weil das nun wirklich zu weit ginge. Oh, bevor ich's vergesse: Du siehst verboten gut aus. So. Jetzt hab ich's gesagt. Noch Fragen?"
Jetzt grinste ich. "Ja, Herr Lehrer. Eine Frage hätte ich: Dein Ernst?"
"Mein Ernst.", bestätigte er.
"Du... Dummkopf.", knurrte ich.
Und noch während er mich ansah, als hätte ich nicht mehr alle Zauberstabkerne beisammen, presste ich meine Lippen auf seine.

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt