22. Kapitel (Gellert): Der Fluch

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“Sag, Gellert: Gibt es wirklich einen Fluch?”, fragend sah Albus mich an. Für einige Sekunden schwieg ich, seufzte und nickte anschließend. “Ja. Den gibt es und ich kann dir auch sagen, warum.” Abwartend blinzelte er. “Um darauf zu kommen, woher der Fluch kommt, muss ich weit ausholen.”, begann ich und seufzte ein weiteres Mal. “Schon seit es uns Zauberer gibt, gibt es auch jene unter ihnen, die in der Lage sind, in die Zukunft zu sehen. Das Zweite Gesicht. Nun, und zu Anfang wurden diese Menschen verehrt, Göttern gleichgesetzt. Aber ist das wirklich richtig? Es kam, wie es bei solchen Dingen kommen muss. Ihre Gabe stieg ihnen zu Kopf, sie wurden arrogant, begannen Visionen zu erfinden. Zum Beispiel sowas wie Wenn du mir nicht den Familienschatz gibst, kommt ein Drache und klaut ihn oder so ähnlich. Zu dieser Zeit, als die Gilde der Sehenden, wie die mit dem Zweiten Gesicht damals genannt wurden, bereits zerfressen war von Gier und Arroganz, gab es eine Hexe die das durchschaute. Denn sie hatte belauscht, wie die Gilde der Sehenden beraten hatte, welche Visionen sie als nächstes erfinden wollten. Und zur nächsten Opferstunde trat sie vor die Gilde und verfluchte sie, sie und alle, die das Zweite Gesicht jemals haben werden und damals hatten. Sie verfluchte sie dazu, auf Dauer die Wirklichkeit unwiederbringlich und unaufhaltsam zu verlieren. Wie du dir vorstellen kannst, erschraken alle furchtbar und das jüngste Gildenmitglied warf sich vor ihr nieder und flehte sie unter Tränen an, ihnen die Möglichkeit des Entkommens zu geben. Die Hexe stimmte zu und erweiterte ihren Fluch. Nach wie vor würden jene mit dem Zweiten Gesicht die Realität verlieren, sie nicht mehr erlangen können, wenn sie sie erstmal verloren hatten. Aber es gab und gibt einen Ausweg. Liebe, Albus. Wahre, ehrliche, reine Liebe. Kein Eigennutz. Nur, und das weißt du, ist eine solche Liebe wirklich nicht einfach zu finden.” Nachdem ich geendet hatte, blickte er mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen. “Hast du nur gesagt, du würdest mich lieben, damit ich dich liebe?”, fragte er, seine Stimme war nur ein raues Flüstern. “Nein. Habe ich nicht.”, erwiderte ich sofort. Albus starrte mich mit schmalen Augen an. “Woher soll ich wissen, dass du nicht lügst?” “Du kannst es nicht wissen. Aber du solltest mir vertrauen.”, gab ich zurück. Ohne zu zögern, ohne Unsicherheit. Meine Visionen flüsterten verführerisch, zerrten an meinem Bewusstsein, kämpften gegen den Wall, den ich errichtet hatte, um zu verhindern, dass sie sich in die Realität oder meine Träume drängten. “Al, bitte!”, stieß ich hervor, als er noch immer nichts sagte. “Bitte!” Ich flehte ihn fast schon an, mir zu glauben. Nein, ich hatte ihn nicht ausgenutzt. Nie. “Beweis es mir.”, sagte er plötzlich. “Was beweisen?”, ich legte den Kopf schräg und sah ihn dann fragend an.
“Dass du die Realität verlierst.”
Warte, was?! “Bist du verrückt?”, zischte ich. “Wenn ich meine Visionen jetzt, alle auf einmal durchlasse, komme ich nie wieder zurück. Albus! Das kann und werde ich nicht tun. Es wäre mein Tod.” “Ich sag nicht, dass du alle durchlassen sollst.”, antwortete er, aber da war eine Spur Beunruhigung in seinen Augen. “Genau das wird aber passieren, wenn ich jetzt den Wall niederreiße. Solange der da ist, kommen sie nur einzeln durch. Aber wenn ich dir ‘beweisen’ wollte, dass ich tatsächlich die Realität verliere, müsste ich meinen Visionen erlauben, ungezügelt zu sein. Und das kann ich nicht. Weil mir dann das passieren würde, was fast allen des Zweiten Gesichts vor mir passiert ist: Ich würde die Wirklichkeit verlieren und sterben. Das ist der Fluch, Albus. Er bringt die Sehenden um. Unwiederbringlich. Begreifst du das? Ich kann und werde es nicht tun! Zu deiner Aufforderung ‘Beweis es mir’: Nein. Das werde ich nicht. Sei lieber froh, dass ich noch in der Lage bin, mit dir zu diskutieren. Denn meine Visionen zerren jede Sekunde an mir, bei jedem Atemzug.”, ich holte tief Luft, schloss für einen Moment die Augen, schüttelte den Kopf und fächerte meine mentale Stärke auf, legte sie wie ein Netz um meine Visionen. Noch nicht. Noch durfte ich die Wirklichkeit nicht verlieren. “Jede Sekunde? Heißt das, du musst… Immer darum kämpfen, nicht jetzt schon die Realität zu verlieren?”, flüsterte Albus beklommen. Seufzend blinzelte ich und bedachte ihn mit einem ironischen Blick. “Bei den gewaltigen Heiligtümern des Todes, du hast es verstanden! Ja! Genau so ist es! Und so wird es bleiben, bis ich den Kampf endgültig gewonnen oder verloren habe.” Er schluckte heftig. “Und… wann hättest du ihn gewonnen?” “Gewonnen? Wenn ich meine Visionen wieder so kontrollieren kann, wie ich es vor einigen Monaten noch konnte. Das kann ich allerdings nur, gewinnen meine ich, wenn ich den Fluch breche. Wie das geht, weißt du.” “Liebe.”, stellte er fast lautlos fest. In der Tat, Liebe. “Nun, und verloren habe ich, wenn meine Visionen eines Tages den Wall, mit dem ich sie momentan noch aufhalte, zerschmettern, mein Bewusstsein fluten und endgültig wegzerren von der Wirklichkeit. Wenn du es so willst, Albus: Es ist der Fluch meiner Art.” “Ich… Ich weiß nicht, was ich zu alldem sagen soll.”, murmelte er und holte tief Luft, stieß sie langsam wieder aus. “So schweige still.”, gab ich ihm zur Antwort. “Wie lange müsste so eine Liebe halten?”, fragte er nun. Na, also. Konnte er doch noch sprechen. “Ewig. Die rettende Liebe müsste das ewig tun, sonst würde der Fluch gleich wieder einsetzen. Allerdings müssen die beiden nicht immer zusammen sein. Denn die wahre, ehrliche, reine Liebe hält den Fluch ab, allein schon indem sie da ist und existiert.”, ich strich mir durch meine aschblonde Haarsträhne und sah an ihm vorbei, zu Hogwarts. “Der Fluch trifft nicht alle Träger des Zweiten Gesichts zum gleichen Zeitpunkt. Manche haben ihn schon von Geburt an und merken ihn erst, wenn sie erwachsen sind und fortgehen oder bei einem Streit. Andere merken ihn erst mitten im Leben. Wieder andere erst zum Ende. Aber keiner, der das Zweite Gesicht besitzt, bleibt verschont. Je später der Fluch einsetzt, desto mächtiger tut er es. Keine. Chance. Auch ich nicht. So sehr ich es mir wünsche. Und wenn du, Al, mir nicht vertraust und glaubst, dass ich dich tatsächlich liebe und es nicht einfach so daher gesagt habe, weil ich deine Liebe brauche, wirkt der Fluch weiter. Weil dann die Liebe nicht rein ist, solange das Vertrauen nicht zu einhundert Prozent besteht. Ich frage dich: Vertraust du mir? Mehr, als sonst jemandem? Genauso, wie du es damals getan hast?”

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt