70. Kapitel (Gellert): Geschwiegen und gelogen

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Vier Wochen später...

In lautloser Formation schwebten die Heiligtümer über mir am Himmel. Die düsteren Wolken passten absolut perfekt zu meiner Stimmung. "Du stehst jetzt seit zehn Minuten hier und hast kein Wort gesagt.", sagte Albus zum dritten Mal. "Stimmt.", gab ich zu und sah langsam zu ihm. "Also?", fragte er vorsichtig. "Sagst du's mir?" Ich seufzte. "Tue ich. Du erinnerst dich, dass ich eine Vision unseres Duells hatte?" "Ja. Natürlich.", er nickte. 
"Gut.", ich strich mir mit der Hand durch meine helle Strähne. "Ich hatte noch eine. Eine, die früher wahr werden wird, als die unseres Duells. Und vor allem eine, die dieses Duell auf eine schreckliche Weise beeinflussen könnte. Wenn sie wahr wird - und das wird sie, das wissen wir beide, Al." "Wieso? Was hast du gesehen?", flüsterte er. Darauf blickte ich ihn an, hielt seinen Blick mit meinem gefangen und erwiderte: "Es war das, dessen ich zu tun gedachte, für den Fall, dass es keinen anderen Weg mehr gibt." Erschrocken riss er die Augen auf und flüsterte lautlos: "Obliviate?!" Wortlos senkte ich den Kopf. Es war ein stummes 'Ja'. "Es... Es wird Coral Everdal sein, oder?", mir entging nicht das leichte Zittern in seinen Worten. "Wer denn sonst?", gab ich zurück und biss die Zähne zusammen. "Wohl kaum Starling." 
"Nein, das ist unwahrscheinlich.", murmelte er zustimmend und seufzte tief. 
Dann hob er den Kopf, sah an mir vorbei und zog die Augenbrauen hoch. "Gellert?", fragte er langsam. "Ja?", ich legte den Kopf schräg. "Können Eulen deine Schutzzauber durchfliegen?" "Selbstverständlich.", antwortete ich. "Wieso?" Albus' blaue Augen wurden dunkel. "Weil da eine fliegt. Hinter dir. Sie kommt auf uns zu." 
Im nächsten Moment schabten Krallen. Interessiert wandte ich den Kopf zur Seite und musterte das Tier. Es war ein Weißwangenkauz, eine in der Muggelwelt ausgestorbene Eulenart. In unserer Welt wurde sie üblicherweise vom... Ministerium eingesetzt. Das fühlte sich an, wie ein schlechtes Omen. Ein ganz schlechtes. Nach einem kurzen Blick zu Albus pflückte ich der Eule den Brief aus dem Schnabel. Albus trat an meine Seite, ich reichte ihm den Brief weiter, er öffnete ihn. Während er las, riss er die Augen auf. "Merlin, nein!", rief er und ließ das Blatt sinken. "Was ist?", fragte ich sanft. "Was steht denn drin?" Ohne ein Wort gab er mir den Brief. Dort stand:

Dumbledore, 

ich habe sie. Melissa Amyra Starling. Wenn Sie Ihre Freundin lebend wiedersehen wollen, würde ich Ihnen dringend raten, offiziell zu kapitulieren und sich mir im Ministerium zu stellen. Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie gerne Ihre Akolythen mitbringen. Meine Auroren sind stark und zahlreich genug. Werden Sie nicht kapitulieren, so können Sie in einer Woche die Leiche von Melissa Starling im Tagespropheten bewundern. Ich erwarte sie spätestens am 30.8 im Ministerium - wie gesagt, in einer Woche. So lange bin ich gewillt, Melissa Starling am Leben zu lassen. Lassen Sie dieses Ultimatum ungenutzt verstreichen, so werde ich mir keinen Zwang antun und Melissa Starling töten. Natürlich nicht, ohne sie vorher zu foltern. Es ist allein Ihre Entscheidung.

Coral I. Everdal

"Wow.", sagte ich, äußerlich vollkommen gelassen. "Heftig." "Heftig?", wiederholte Albus und sah mich an, als hätte ich nun endgültig den Verstand verloren. "Das trifft es nichtmal ansatzweise." "Ich weiß.", erwiderte ich leise, starrte das Blatt an und zog die linke Augenbraue hoch. Sofort verschlangen blau-weiße Flammen hungrig, knisternd, das Papier. Der Weißwangenkauz kreischte, sah mich vorwurfsvoll an und flog davon. "Nun, was wirst du tun?", fragte ich ihn. Er schüttelte nur den Kopf. "Ich weiß nicht. Hingehen, eigentlich. Aber... so, wie ich Coral Everdal kenne, hat sie nicht vor, mich einfach einzusperren. Ich würd ihr zutrauen, dass sie Melissa vor meinen Augen umbringt oder foltert oder beides, nur um mich zu quälen. Trotzdem.", er verzog das Gesicht und schluckte. "Ich muss gehen. Ich muss wenigstens versuchen, sie zu retten. Das bin ich Sam schuldig."
'Ich würd ihr zutrauen, dass sie Melissa vor meinen Augen umbringt oder foltert oder beides, nur um mich zu quälen.' Natürlich könnte Coral Everdal das tun. Oder noch etwas anderes. "Hast du auch schon dran gedacht, dass sie etwas komplett anderes tun könnte?", ich konnte und wollte die Anspannung in meiner Stimme nicht verhindern. "Wie meinst du?", fragend sah er mich an. Ich verengte die Augen und hauchte kaum hörbar: "Obliviate." Entsetzen trat in seine Augen. "Du meinst... deine Vision... bezieht sich... auf... das?!" "Absolut richtig.", ich nickte kurz. "Hervorragend.", die Ironie in seinen Worten war unüberhörbar. "Aber... Gellert, was werde ich vergessen? Was sagt deine Vision dazu?" Obwohl ich diese Frage erwartet hatte, schmerzte sie mehr als jede Ohrfeige, die meine Mutter mir je gegeben hatte. Mehr, als jeder Schnitt, mehr als jede Narbe, die ich ihr und Naryc verdankte. Bevor ich ihm antwortete, richtete ich meinen Blick an Nurmengard vorbei, auf die Berge in der Ferne. "Es gibt zwei Formen des Vergessenszaubers. Einmal Amnesia, bei welchem du alles vergisst. Und ich meine alles. Nun, und Obliviate gibt es auch noch. Bei ihm vergisst du nur das, von dem dein Gegenüber es will. Ich weiß nicht, woher Coral Everdal das weiß, aber sie weiß, dass ich wieder am Leben bin. Sie weiß es ganz genau. Es kann sein, dass sie dich hasst, aber mich ebenso. Sie wird dich obliviieren. Sie wird dir das Wissen um uns nehmen. Das Wissen um deine Liebe zu mir. Dann wird sie höchstwahrscheinlich dafür sorgen, dass wir uns duellieren. Ein solches Duell, Al, endet immer tödlich. Ja, ich weiß was du sagen willst. 'Aber ich würde dich niemals töten! Ich liebe dich!' Ja, tust du. Aber dein Wille, mich nicht zu töten, ist an deine Liebe zu mir gebunden. Und wie willst du mich nicht töten, wenn du dich nicht mehr an deine Liebe zu mir erinnerst? Die Vision über unser Duell lässt nicht auf den Ausgang schließen - sie war nur ein kurzes Bild. Ich sah lediglich, dass wir uns mit gezückten Zauberstäben gegenüberstanden. Und das kann ebenso bei einem Schein-Duell als auch bei einem richtigen so sein."
Nachdem ich geendet hatte und wieder zu ihm sah, starrte Albus mich an. Sprachlos. Erschrocken. Ungläubig. "Das kann... nicht sein!", stieß er schließlich hervor und suchte meinen Blick, aber ich wich ihm aus. "Oh, doch. Das kann es." Verzweiflung flackerte in seinen Augen. "Ich werd dich nicht umbringen!", flüsterte er erstickt. "Niemals!" "Versprich nichts, an das du dich nicht hältst.", gab ich leise zurück und setzte hinzu: " 'Ich werde dich niemals verlassen, Al-Liebster. Niemals, das schwöre ich dir, sowahr wir einen Blutschwur haben.' Das habe ich dir mehr als versprochen. Habe ich mich daran gehalten? Nein. Also tue es mir bitte nicht nach." Einige Sekunden lang schwieg er, rang nach Atem. "Gellert... Damals, 1899. Hast... Hast du es gesehen? Dass du gehen würdest?", fragte er schließlich heiser. "Natürlich habe ich es gesehen.", gab ich zur Antwort und sog den Atem ein. "Wann?", flüsterte er. "Schätzungsweise... ungefähr drei Wochen vorher. Ich sah das Ende des Drei-Wege-Duells und dann mich, wie ich ging. Alles aus meiner Sicht, versteht sich. Wie immer. Eine Vision ist immer aus dem Winkel des zukünftigen Ichs der Person, welche die Vision hat.", ich gab ihm meine Antwort ruhig und gelassen. "Drei Wochen? Und du hast nichts gesagt.", sein letzter Satz war eine Feststellung, keine Frage. Ich lachte auf. "Nein. Wie hätte sich das denn angehört? 'Ach, Al, nur damit du es weißt: In drei Wochen werden dein Bruder, du und ich uns duellieren. Wir beide gegen deinen Bruder. Dabei wird deine Schwester sterben und als wäre das nicht schon genug, gehe ich danach einfach weg, weil es mich zu sehr an den Tod meiner Schwester ein Jahr zuvor erinnert.' Stell dir vor, ich hätte das gesagt. Das wäre doch das Allerletzte gewesen. Nein, Al. Ich habe es dir nicht gesagt. Und um ehrlich zu sein, würde ich es genauso wieder tun. Ich bereue keine einzige Sekunde, die wir damals hatten. Aber ich würde sie bereuen, wenn ich es dir gesagt hätte. Denn wenn ich es dir wirklich gesagt hätte, dann... Hätte ich dir auch von Gina erzählen müssen. Und das war damals noch unmöglich. Auch heute ist es... mehr als ein Kampf mit mir selbst, auch nur ihren Namen auszusprechen. Selbst jetzt, nachdem ich mich mit ihr ausgesprochen habe." "Also hast... du mich strenggenommen schon da angelogen.", stellte er fest. "Ja. Habe ich.", erwiderte ich ehrlich. Für einen Moment biss er sich schweigend auf die Lippe, dann sah er mich an. Ich konnte es in seinem Blick lesen, bevor er es mir sagte. "Geh, Gellert. Lass mich allein. Bitte." Zur Antwort nickte ich leicht. "Denke nach. Lass dir Zeit und sage mir dann, ob du mir weiterhin vertraust oder nicht.", sagte ich leise, wandte ihm den Rücken zu, rief mit einem tiefen Atemzug die Heiligtümer des Todes zu mir und ging.

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt