51. Kapitel (Albus): Wahrscheinlichkeit

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Ich hatte ihn verletzt.
Ich hatte es in seinen Augen gesehen.
Als ich ihn einen Verräter nannte.
Als ich ihn einen Lügner nannte.
Als ich ihn Grindelwald nannte.
Der Schmerz in seinem zweifarbigen Blick war unübersehbar gewesen und doch hatte er mich festgehalten, hatte mich daran gehindert, in blindem Hass die Auroren zu töten. Die Auroren, die Sam getötet hatten. Das würde ich ihnen nie verzeihen. Niemals. Musste ich auch nicht. Joseph Greengrass war tot, die Hälfte der übrigen Auroren auch. Ein kleiner Teil hatte Gellerts Dämonfeuer überlebt - sie waren geflohen. Hoffentlich kamen sie nie, nie wieder. Warum hatte Gellert das gesagt? Er hatte gesagt, ich hätte jedes Recht ihn einen 'Lügner' und 'Verräter' zu nennen. Hatte ich das? Nein. Er hatte mir verziehen. Aber es würde dauern, bis ich mir selbst vergeben konnte. Bis ich mir den Schmerz vergeben konnte, der seine Augen zum Flackern gebracht hatte. Wie eine Kerzenflamme im Wind. Mal heller, mal dunkler. "Wo sind wir überhaupt? Melissa?", Gellert hatte einen Arm um mich gelegt und sah sich um wie jemand, der gerade einen neuen Kontinent entdeckt hatte. "Irgendwo in Schottland.", antwortete Melissa und strich sich nachdenklich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. "Ich glaub, in der Nähe von Edinburgh." "Aber in der Nähe Edinburgh wächst kein solcher Wald. Und auch keine Wiese wie die hier.", warf ich ein. "Stimmt.", gab sie mir Recht. "Ich dachte halt... Aber... wenn ich's nicht weiß... Wie konnte ich dann herdisapparieren als... als Sam mich gerufen hat?" Die Antwort auf ihre komplizierte Frage kam von Gellert. Er steckte den Elderstab weg und blickte sie an. "Was glaubst du, warum ich jederzeit weiß, wo Albus ist? Nicht wegen meines Gespürs, auch wenn das natürlich unterstützend wirkt. Ich weiß immer, wo er ist." "Genauso, wie ich immer weiß, wo du bist. Zumindest... seit einer Weile.", ergänzte ich. Einige Sekunden musterte Melissa uns wortlos, dann seufzte sie. "Natürlich habe ich ihn geliebt. Wie auch nicht? Er war als einer der ersten Zauberer freundlich zu mir. Was denkt ihr, warum er mich 'Lissa' genannt hat? Nicht ohne Grund." Darauf nickte Gellert nur, als hätte er das schon die ganze Zeit über gewusst - was ich ihm auch durchaus zutraute. Hingegen ich war kurz überrascht. Jedoch nur für einige Augenblicke. Eigentlich, dachte ich dann, ist es offensichtlich gewesen. "Ich hatte eine Vision.", sagte Gellert aus heiterem Himmel. "Was?", aufgeschreckt sah ich ihn an. "Wann? Gerade eben?" "Nein.", er schüttelte den Kopf. "Vor zwei Tagen." "Und? Was hast du gesehen?", Melissas Stimme klang so angespannt wie die Saite einer Violine, kurz vor dem Zerreißen. "Ich kann dich beruhigen. Du kamst nicht in der Vision vor.", antwortete er. Als er nicht fortfuhr, bekam er von zwei Seiten Todesblicke. "Wir beide, Al.", setzte er endlich hinzu. "Und die Auroren. Es waren viele. Sehr viele." "Wie das denn?! Die Hälfte ist tot!", rief ich erschrocken. "Ja. Aber es waren nicht nur Auroren in meiner Vision. Es waren auch andere. Jene, die dich dafür hassen, dass du mich nicht umgebracht hast.", da war etwas in seinen Worten, als er sprach. Etwas, an der Art, wie er mich ansah. Nur was?
War es der Unterton, den ich nicht deuten konnte?
War es das seltsame Glitzern in seinen verschiedenfarbigen Augen?
"Travers hatte nie Auroren, die so treu zu ihm standen oder stehen, wie Starling!", protestierte ich. "Keine weiteren Auroren, Albus. Nur die zwölf, die meinem Dämonfeuer entkommen sind. Und doch werden es fünfzig sein, die deinen Tod wollen.", korrigierte er mich. "Kannst du sie nicht einfach vorher noch schnell umbringen?", schlug Melissa vor. "Kann ich nicht.", sein Blick wurde dunkel wie eine Gewitternacht im Winter. "Was das Zweite Gesicht sagt, wird wahr. Das ist das Grausame. Ich sehe, was passieren wird und kann es nicht ändern. Selbst wenn ich die Auroren jetzt töte, würden es immer noch genug andere sein. Möglicherweise sogar mehr, als wenn ich die Auroren nicht umbringe." "Alles, was du siehst, wird das genauso wahr, wie das Zweite Gesicht es sagt?", fragte sie. Für einen Moment betrachtete Gellert sie, als überlegte er, ob er ihr überhaupt eine Erwiderung geben sollte. Aber er tat es. "Die Zukunft ist im allgemeinen veränderlich. Das Zweite Gesicht zeigt die Versionen der Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit von 99% und mehr. Ich weiß nie, wie hoch der Prozentsatz jeder einzelnen Vision ist. Aber seit ich Visionen habe - und das ist seit ich acht bin so - ist jede einzelne ganz genauso eingetroffen, wie ich sie gesehen habe. Ohne den Hauch einer Abweichung." "Gibt es nicht für alles ein erstes Mal?", es war eher Verzweiflung als Hoffnung, die mich diese Worte aussprechen ließ. Darauf sah er mich lange an, strich mir dann zärtlich die Haare aus der Stirn und antwortete: "Was das Zweite Gesicht betrifft, nein. Niemals. Das Zweite Gesicht irrt nicht." "Bei Merlins Bart.", murmelte Melissa. "Hast du gerade gesagt 'mit einer Wahrscheinlichkeit von 99%'?!" "Habe ich. Und ein Prozent ist höchstens eine minimale Abweichung. In etwa so: Nehmen wir an, ich hätte eine Vision, in der ich sehe, dass Starling gefesselt in Askaban ist. Ich höre, dass er tatsächlich dort ist und disappariere dorthin. Eine minimale Abweichung wäre dann, wenn er statt links in seiner Zelle rechts an den Boden gekettet wäre. Mehr kann bei einem Prozent nicht passieren.", seine Stimme war ruhig, vollkommen gelassen. Er kannte sich aus, das merkte ich. Zum einhundertsten Mal fragte ich mich, wie viele Bücher er bitte schon gelesen haben musste. Nicht, dass ich nicht viele gelesen hatte. Aber über andere Dinge. Und ehrlich gesagt wüsste ich auch gar nicht, wo ich Bücher mit einem solchen Wissensgehalt über das Zweite Gesicht oder Schwarzmagie herbekommen sollte. Vermutlich... wollte ich es gar nicht wissen. "So wenig.", flüsterte ich tonlos. "Ja. So wenig.", bestätigte Gellert. Obwohl seine Antwort kurz war, spürte ich, dass er mir viel lieber eine völlig andere gegeben hätte. "Was", fragte Melissa schließlich "machen wir jetzt mit Sam?" Daraufhin seufzte ich. "Das, was man üblicherweise mit toten Auroren, Ministern, Abteilungsleitern und Ministeriumsangestellten tut, die bei einem Einsatz sterben: Man bringt sie stets zurück ins Ministerium." "Ich mach das.", sagte sie entschlossen. "Weil... Versteht mich nicht falsch aber... Ich glaube, wenn die Auroren euch sehen, dann... sind mehr als nur die treusten Anhänger meines Bruders hinter uns her." Zur Antwort blinzelte Gellert und nickte dann, ich schloss mich ihm an. "Dann gehe ich jetzt. Hilft ja alles nichts.", sie stieß den Atem aus, trat zu Sam und kniete sich an seine Seite. Ich sah, wie sie ihm liebevoll die blutverklebten, platinblonden Strähnen zurückstrich und schluckte schwer. Nicht. Ja nicht anfangen zu weinen., ermahnte ich mich. Ein stummes Schluchzen schüttelte ihre Schultern, sie hob trotzig den Kopf höher, auch wenn Tränen ihre Wangen hinabliefen, und disapparierte. Mit Sam. Starr blickte ich an die Stelle, an der die beiden zuletzt gewesen waren. Sam hatte gekämpft. Für uns alle. Ich erinnerte mich, wie er zu mir gesagt hatte, dass er die Auroren töten würde. Als Rache für Gellert. Jetzt war er selbst tot und Gellert nicht. Es war so unfair. So schrecklich unfair.
Lange, das wusste ich, würde ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten können. "Al.", Gellerts Stimme war nur ein Flüstern an meinem Ohr. "Komm her.", fuhr er sanft fort, zog mich an sich und schmiegte seine Wange an meine. "Du musst mich ja für total hypersensibel halten.", murmelte ich. "Unsinn.", widersprach er leise. "Zum einen ist Sam tot. Das ist ein Grund zum Weinen. Zum anderen...", er zögerte. "Jene, die wahre Seelenstärke besitzen, können auch weinen. Weil sie mit ihren Gefühlen umzugehen wissen, Liebling. Ich liebe dich. Was immer du auch tust. Was immer du auch sagst." Blinzelnd sah ich ihn an. "Ist es denn nicht meine Schuld? Dass er tot ist." Auf diese Frage hin blickte Gellert mich an, als hätte ich den Verstand verloren. "Nein. Ist es nicht. Wenn, dann meine. Schließlich war ich es, der euch vorenthalten hat, dass ich noch lebe." "Du musstest es tun, Gellert. Das Ministerium glaubt, dass du tot bist. Und nur so haben wir beide ein gewisses Maß an Freiheit.", sagte ich, kämpfte immer noch damit, nicht in Tränen auszubrechen. "Freiheit.", wiederholte er nachdenklich. "Gut. Dann hast du die Freiheit, zu trauern. Halt es nicht zurück, Liebster. Es wird dich sonst zerbrechen. Glaub mir, ich kenne mich damit aus." Jaaaah. Das tat er. Endlich konnte ich den Griff um meine Emotionen lockern. Merlin, es war... befreiend, mich nicht mehr zügeln zu müssen. Schluchzend vergrub ich den Kopf an Gellerts Schulter. Irgendwo rechnete ich damit, dass er sich von mir zurückzog. Tat er nicht.
Stattdessen hielt er mich fest. 
Wortlos. 
Er hielt mich einfach nur fest.

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt