55. Kapitel (Albus): Der Riss

188 14 45
                                    

Die Finsternis von Gellerts Vision, in der die Auroren mit mindestens 30 Verbündeten aufkreuzten, lastete schwer auf mir. Auf ihm auch. Aber da war noch etwas. In den letzten zwei Tagen kam es des öfteren vor, dass er mit aufgerissenen Augen dastand, den Blick ins Nichts gerichtet und dann immer krampfhaft den Kopf schüttelte, als versuchte er mit aller Macht, etwas loszuwerden. Was das war? Ich wusste es nicht. Wann immer ich ihn fragte, bekam ich die gleiche Antwort: 'Ich kann es dir nicht sagen, Liebster. Ich kann nicht.' Mehr sagte er nicht. Aber ich machte mir gerade deswegen Sorgen. Was auch immer es war, es schien ihn innerlich zu zerstören. Hatte es vielleicht etwas mit seiner letzten Vision zu zu tun? Denn auch da hatte er mir partout nicht sagen wollen, was er gesehen hatte. Möglicherweise hing das ja zusammen. Wenigstens eine gute Nachricht gab es: Der Fluch, den Coral Everdal auf mich gelegt hatte, verging und ich konnte endlich wieder ruhiger schlafen. Als Melissa erfahren hatte, dass Coral Everdal mich über die Erinnerung verflucht hatte, war sie entsetzt gewesen und hatte alles daran gesetzt, noch unauffälliger zu wirken. Trotzdem kam sie weiterhin regelmäßig.
Seit nunmehr fast einer Woche war Nurmengard nun schon mein, wenn man es so nennen konnte, 'Versteck'. Allmählich begann ich mich zu fragen, ob ich jemals wieder wie ein ganz normaler Lehrer meine Schüler würde unterrichten können, oder ob ich zur lebenslangn Flucht vor dem Ministerium verdammt war.
"Jetzt bist du es aber, der die Realität vergessen hat. Und nicht ich.", erklang plötzlich Gellerts Stimme. Ich stieß den Atem aus. "Merlin, Gellert. Du hast es schon wieder getan!", sagte ich. "Was denn?", fragte er betont harmlos. "Mich zu Tode erschreckt!", rief ich. "Für einen Toten siehst du noch sehr lebendig aus.", antwortete er schlagfertig. Mit einem Seufzen drehte ich mich und bedachte ihn mit einem tödlichen Blick. "Das sagt man auch nur so.", knurrte ich. Er grinste. Doch es war das gleiche Grinsen, wie in den letzten Tagen. Nicht so frech, unbekümmert und selbstbewusst wie sonst. Auch der Ausdruck in seinen Augen hatte sich verändert. Wo vorher der Mut, die Gelassenheit und die Selbstsicherheit gefunkelt hatten, stand nun ein unsicherer, besorgter Glanz. Bei Merlins Zauberstab! Wenn er es mir doch nur endlich sagen würde! Was er in seiner Vision gesehen hatte! Worüber er sich solche Gedanken machte, dass ich manchmal meinte, der Fluch des Zweiten Gesichts wäre zurückgekehrt! "Das weiß ich doch.", stellte er nun klar und riss mich damit (wieder) aus meinen Überlegungen. "Du weißt das?", ich zog die Augenbrauen hoch. "Wie wunderbar." "Das denke ich auch.", gab er zurück, sein Blick schweifte an mir vorbei, aus dem Fenster. Wieder war da dieses abwesende, sorgenvolle, fast schon verzweifelte Schimmern in seinen Augen. "Was ist?", ich stellte die Frage zum einhundertsiebten Mal. Ja, ich hatte mitgezählt!!! "Nichts.", erwiderte er leise. Ich verdrehte die Augen. "Gellert. Hör auf zu lügen." Er sah mich an und schluckte. "Ich kann es dir nicht sagen.", flüsterte er und wandte den Kopf so schnell wieder ab, wie ich es früher immer bei ihm getan hatte. "Hat es was mit deiner letzten Vision zu tun?", fuhr ich unbeirrt fort. Darauf zuckte er zusammen, als hätte ich ihn geschlagen, schwieg aber. "Ja.", bestätigte er schließlich. Merlin! Er machte mich wahnsinnig! Nicht um positiven Sinne. Zumindest gerade im Moment. "Was hast du gesehen? Gellert! Rede mit mir! Ich bin nicht hier, um Konversationen mit einer Wand zu führen!" "Bitte?", hakte Gellert nach und richtete seinen Blick auf mich. "Eine Wand? Hier sind viele Wände." Oh, bei Merlins linker Socke! Am liebsten würde ich ihm etwas überziehen. Aber da ich schlecht das halbe Schloss auseinander nehmen konnte, nur um einen geeigneten Gegenstand zu finden, ließ ich es sein. "Du weißt ganz genau, was ich meine.", entgegnete ich scharf. "Tue ich.", er senkte den Kopf und sah wieder weg. "Aber...", er sog zitternd die Luft ein. "Ich kann es dir trotzdem nicht sagen, Liebster. Ich kann nicht." Ah, da war sie ja wieder. Seine Standardantwort. Leicht abgeändert, aber ich erkannte sie. "Gellert, wenn du das noch einmal sagst, dann bring ich dich um!", ich spielte mit dem Gedanken, ihn durchzuschütteln, bis er endlich damit rausrückte. Als ich 'dann bring ich dich um' sagte, weiteten sich seine Augen. Für einen Moment fiel seine Fassade komplett in sich zusammen. Für einen Moment spiegelte sich die blanke Verzweiflung auf seinem Gesicht. Dann erlangte er die Kontrolle wieder und schaffte es, die Verzweiflung in seinen Blick zurückzudrängen. "Wenn ich was noch einmal sage?", wollte Gellert dann wissen. "Dieses 'Ich kann es dir nicht sagen'. Natürlich kannst du. Du willst nur nicht. Warum auch immer.", gab ich zur Antwort. "Du verstehst es nicht!", stieß er hervor und starrte so angestrengt aus dem Fenster, als hinge davon sein Leben ab. "Dann erklär's mir.", ich trat an seine Seite. Langsam atmete er aus, ein Schaudern überlief ihn. Zögernd, weil ich nicht wusste, ob er mich abschütteln würde, legte ich eine Hand auf seinen Rücken. "Wenn ich es dir sage, zerreißt es dich.", murmelte er mit rauer Stimme und seufzte. Ohh. Das klang nach einer bösen Vorahnung. "Weißt du das sicher?", fragte ich sanft. 
"Zu eintausend Prozent."
Na, herrlich. "Ich kann es dir nicht sagen. Es geht nicht.", setzte er hinzu. "Doch. Du kannst.", widersprach ich behutsam. Sein Kopf flog zu mir herum. Erschrocken registrierte ich die glitzernden Spuren von Tränen auf seinen Wangen. "Ich. Kann. Nicht.", wiederholte er eindringlich. "Ich kann und werde es dir nicht sagen, Al."
"Nenn mich nicht 'Al'!"
Ich hatte die Worte ausgesprochen, bevor ich auch nur angefangen hatte, mir über seine Reaktion Gedanken zu machen. "Was?", stieß Gellert heiser hervor. "Ich soll nicht -?", seine Stimme brach wie tausende von Glasscheiben bei einer Explosion. Er war vor mir zurückgewichen und starrte mich an, schwer atmend, die Augen groß vor... Enttäuschung? Schmerz? Angst? Genau konnte ich das Gefühl nicht deuten. Nun schluckte er heftig, wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und ging. Wie zu Eis erstarrt stand ich da und sah ihm nach.
Was hatte ich nur gesagt?
Wie kam ich den bitte auf sowas?
Jetzt hatte ich wirklich große Lust, mir selbst etwas überzuziehen. Ein Stein vielleicht. Oder einen Ast. Oder ein dickes Buch. Und dicke Bücher gab es in Nurmengards Bibliothek genug. Aber stattdessen haute ich mir den Kopf an die Wand. Das ging schneller. Was, bei Merlins Unterhemd, war bitte in mich gefahren?! Was hatte mich denn geritten, dass ich das zu ihm gesagt hatte?!
Ich musste wirklich von allen guten Geistern verlassen sein. Endlich gehorchte mir meine Stimme wieder. "Nein.", flüsterte ich. Zu spät. Der Riss in seiner Seele war da - ich hatte es in seinen Augen gesehen.
Wie das Licht darin zuerst geflackert hatte, wie eine Flamme im Wind.
Dann schien sich ein einzelner, dunkler Riss durch den Glanz in seinem Blick gezogen zu haben.
Sekunden später war das Licht komplett erloschen gewesen.
Tja. So etwas nannte man auch das 'Brechen' einer Seele. Und es war genauso tödlich wie der Todesfluch. Nur wesentlich langsamer und grausamer.
Auf der Stelle.
Ich musste ihn auf der Stelle finden. Denn solange das 'Brechen' noch im ersten Stadium von drei war, konnte es noch aufgehalten werden. Mir war klar, dass ich mich wirklich beeilen musste. Je weniger Zeit verstrich, desto besser. Ooookay. 
Ruhig, sagte ich mir, ganz ruhig. Denk nach. Wo könnte er jetzt sein? Denk nach.
Plötzlich fiel mir ein, was Gellert zu Melissa vor wenigen Tagen gesagt hatte. An dem Tag, an dem Sam gestorben war. Hatte er nicht gesagt, er würde immer wissen, wo ich war? Und hatte nicht ich ihm noch beigepflichtet und gesagt, dass ich auch immer wissen würde, wo er war?
Ja. So war es gewesen.
Gut. Soweit, so gut. Was nun? Musste ich mich vielleicht auf ihn, oder uns, konzentrieren? Ein Versuch wäre es wert, beschloss ich. Auf jeden Fall, selbst wenn es fehlschlug, war es allemal besser als hier zu stehen und nichts zu tun. Also gut. Ich dachte an ihn. An uns.
Wie er sich lachend die blonden Locken aus dem Gesicht strich und mich spöttisch ansah.
Wie er den Elderstab zog, mich diabolisch anlächelte und flüsterte: "Wir sind jetzt Feinde, Liebster."
Wie er mir diesen undefinierbaren Blick zuwarf, der alles an mir zittern ließ.
Abrupt blinzelte ich. Denn plötzlich hatte ich die Erleuchtung, wo er war.
Für einen Moment sah ich alles durch seine Augen:
Die Blätter der Bäume flüsterten im Wind. Die Büsche knisterten leise.
Auch der Walnussbaum reckte seine Äste stolz in den Himmel.
Nach einundvierzig Jahren.
Alles klar. Nun wusste ich, wo er war. Mit aller Konzentration, die ich für den Moment aufbringen konnte, bildete ich das vor meinem inneren Auge nach, was ich gerade gesehen hatte.
Es war der Ort, an dem Gina entführt worden war.
Ich disapparierte.

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt