47. Kapitel (Albus): Albträume

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Ich versuchte es.
Ich versuchte es wirklich.
Mich zu konzentrieren, eine Erinnerung zu finden, die mir eines Patronus würdig erschien. Doch ich fand keine. Mir war es ehrlich gesagt gerade ein Rätsel, wie ich überhaupt dazugekommen war, jemals den Patronus-Zauber zu versuchen. "Al. Nein.", sagte Gellert da. "Was 'nein'?", fragte ich und bedachte ihn mit einem irritierten Blick. Er sah mich an, da war ein fast unmerkliches Lächeln auf seinen Gesichtzügen. "Du darfst nicht nachdenken." "Aber... ich muss doch eine Erinnerung finden!", protestierte ich. "Natürlich.", antwortete er. "Musst du. Aber 'eine Erinnerung finden' und 'nachdenken' ist absolut nicht das gleiche." "Ist es nicht?", fragte ich skeptisch. Weiterhin leise lächelnd schüttelte er den Kopf. "Nein. Denk. Nicht. Nach. Frag dich nicht selbst, ob du das kannst. Tue das nicht. Finde die Erinnerung. Aber zweifele nicht." "Gut. Ich versuch's.", gerade wollte ich mich wieder meinen Erinnerungen zuwenden, da fiel mir noch etwas ein. "Gellert?", ich wandte ihm abrupt wieder den Kopf zu. "Ja? Was ist?", er blinzelte. "Woher weißt du, dass ich nachgedacht habe? Du hast doch nicht etwa-?" "Ja. Nein. Ein bisschen.", er zuckte die Schultern. "Du bist unverbesserlich.", murmelte ich und seufzte. Darauf grinste er. "Ich weiß." Ernster fuhr er fort: "Such sie. Finde sie." Sie. Die Erinnerung, schon klar. Okay. Blinzelnd richtete ich meinen Blick ins Leere. 
Nicht. 
Nicht nachdenken. 
Suchen. 
Also gut. Da. Da hatte ich sie. Nach kurzem Zögern richtete ich die Augen wieder auf Gellert.
"Hast du sie?", seine Stimme war ein Flüstern. "Ja.", erwiderte ich und schluckte. "Nimm sie. Mit deiner mentalen Energie. Halt sie fest.", er senkte den Kopf, sodass wir genau auf Augenhöhe waren, sein zweifarbiger Blick brannte sich in meinen. “Und jetzt?”, ich blinzelte, musste mich zusammenreißen, um den Kopf nicht abzuwenden. “Jetzt?”, er sagte es leise, so leise, dass ich ihn fast nicht hörte und verschränkte die Finger seiner linken Hand mit meinen. “Sprich die Formel.” Das war ja hoffentlich nicht sein Ernst! Wie sollte ich mich denn konzentrieren, wenn er so nah vor mir stand, dass ich sogar seinen Atem spüren konnte? Aber gut. Ich lockerte den Griff meiner mentalen Stärke um die Erinnerung etwas und zog sie vor mein inneres Auge. "Ich kann's nicht.", ich schüttelte den Kopf. "Doch. Du kannst es. Zweifelst du etwa an dir? Ich tue es nicht." Ich seufzte. "Woher hast du nur immer deine Sicherheit?" "Na ja, ich lasse eben keine Zweifel zu.", erwiderte Gellert so gelassen, als würden wir von Wingardium Leviosa sprechen, und nicht von einem der kompliziertesten, weißmagischen Zauber, die es gab. Denn ja, der Patronus-Zauber war schwer. Alles andere als leicht. "Außerdem kannst du nicht wissen, ob du es nicht doch hinbekommen wirst. Denn bisher hast du es ja nicht einmal versucht.", fuhr er fort. "Ich habe es versucht!", rief ich. "Ach ja? Wann? Vor drei Monaten? Kann sein. Es kann sein, dass es in der Vergangenheit nicht mehr geklappt hat. Hat es aber. Denn weißt du, was mich noch immer an meiner Patronusgestalt gewundert hat? Ein Phönix. Wie deiner. Früher war es ein Luchs, wie du weißt. Dann war ich des Zaubers unwürdig und als ich ihn das nächste Mal rief, war es ein Phönix. Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore, sieh. Mich. An. Du kannst es. Ich weiß es. Ich spüre es. Aber du darfst nicht an dir selbst zweifeln. Was habe ich gerade gesagt? Wiederhole es!" "Dein Ernst?", ich grinste leicht. Schier nachdenklich spielte er mit dem Elderstab. "Nein.", gab er dann zu. "Vermutlich nicht. Jetzt mach. Sag es." Okay, okay, okay. Gegen solche schlagende (schlagende?!) Argumente war ich machtlos. "Also gut.", ich nickte langsam, sammelte mich ein letztes Mal. "Expecto patronum!" Natürlich. Nichts. Ich hätte es mir denken sollen. "Jetzt was?", halb herausfordernd, halb verzweifelt sah ich ihn an. Zu meiner Verwunderung lächelte er. "Expecto patronum.", wiederholte er und es klang, als wäre er sehr am Nachdenken. "Das ist Latein. In unsere Sprache übersetzt heißt es ungefähr soviel wie: 'Ich erwarte einen Schutzherren.' Erwarten. Nicht herbefehlen. Dennoch bin ich der Meinung, dass die Betonung viel ausmacht. Frag deinen Patronus nicht, ob er kommt. Ruf ihn. Verlange es von ihm. Er muss kommen, wenn du ihn rufst. Weißt du, es erscheint mir doch ziemlich sinnlos... Nehmen wir einmal an, all unsere Zaubersprüche wären nicht in Latein, ja?", er blickte mich an. Verständnislos zuckte ich mit den Schultern. "Gut. Ja, nehmen wir es an. Und nun?" "Stell dir weiter vor, du wärst von einer Horde Dementoren umzingelt. Was tust du? Ziehst du den Zauberstab, stellst dich in ihre Mitte und sagst: 'Ich erwarte einen Schutzherren.'? Punkt. Keine große Betonung, kein Ruf. Oder machst du es doch eher wie folgt: Zauberstab ziehen, Kopf hoch und 'Schutzherr, ich rufe dich! Komm zu mir!'. Nun? Erste oder zweite Version?" "Zweite. Natürlich.", sagte ich sofort. "Siehst du. Aber momentan bist du doch näher an der ersten. Al, man ruft seinen Patronus nicht zum Spaß. Du rufst ihn, wenn du ihn brauchst. Rufen. Nicht erwarten. Verlange nach ihm. Er hat deinem Ruf zu folgen und zwar nicht erst in zehn Minuten sondern jetzt. Genau dann, wenn du ihn rufst." "Du hast Recht.", stimmte ich ihm zu. "Ich versuch's nochmal." "Nicht 'versuchen', Liebling.", er grinste. "Du machst es." Darauf verdrehte ich die Augen. "Jaaaaha." "Nichts da. Versuchen gibt es nicht. Nur machen, sein lassen oder scheitern.", Gellert schüttelte den Kopf. Gerade, als ich erneut den Zauberstab hob und erneut zu der Formel ansetzte, überrannten mich meine Selbstzweifel mit allem, was sie hatten. Zitternd zog ich den Atem ein und wandte den Kopf ab. "Ich kann nicht, Gellert.", flüsterte ich. "Ich kann einfach nicht." "Doch. Du kannst. Sieh mich an. Liebster. Sieh mich an.", er strich mir sanft mit einem Finger über die Wange. Ich schluckte, zwang mich dazu, ihn wieder anzusehen. "Konzentriere dich nur auf mich. Allein auf mich. Denk nicht an den Zauber, nicht an die Erinnerung. Konzentriere dich auf mich ganz allein.", seine Stimme war wie eine Brise in einem heftigen Sturm. Nach kurzem Zögern tat ich, wie mir geheißen. Merlin, diese Augen! Seit vierzig Jahren sah ich diese Augen in meinen Träumen. Nicht jede Nacht. Aber doch oft genug. Der Schmerz um Gina würde wahrscheinlich niemals aus seinem Blick verschwinden. Als ich schließlich die Formel begann, waren seine Worte ein Flüstern an meinem Ohr. Expecto patronum. Und in dem Moment, in dem wir wie eine Stimme den Zauber sprachen, wusste ich, dass er kommen würde. Mein Patronus.
Tatsache.
Zuerst waren es nur silberne Fäden. Dann wurde daraus stetig die anmutige Gestalt des Phönix, der bis vor wenigen Tagen auch noch Gellerts Patronusgestalt gewesen war. Bis der Dämon sie ihm geraubt hatte. "Hat doch geklappt.", er schenkte mir sein strahlenstes Lächeln. "Hat es.", ich konnte es, ehrlich gesagt, noch nicht ganz glauben. "Ich bin noch ziemlich..." "Vorteilhaft enttäuscht?", schlug er vor. Ich starrte ihn an. "Was?" Er grinste. "Überrascht, Al." "Ach-so.", ich blinzelte mehrmals. "Du bist seltsam.", sagte ich dann. "Ich weiß. Du auch.", lautete seine Antwort. "Jaja.", ich taxierte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. "Danke, für das wunderschöne Kompliment." "Gerne. Für dich immer.", er lächelte schelmisch. "Ich hab meinen Patronus.", fuhr ich schließlich fort. "Aber was ist mit deinem?" Auf einen Schlag wurden seine Augen so dunkel, dass das Eisblaue fast schwarz wirkte. "Es gäbe einen Weg, ihn wiederzubekommen.", antwortete er leise. "Einen grauenhaften. Den einzigen." "Der wäre?", fragend sah ich ihn an. Gellert seufzte tief und blickte offenbar gedankenverloren auf den Elderstab hinab. "Ich müsste meinen schlimmsten Albtraum, meine schrecklichste Erinnerung, noch ein weiteres Mal durchleben. Danach die fröhlichste. Erst dann könnte es sein, dass ich meinen Patronus wieder rufen kann." "Könnte?", hakte ich nach. "Jaaah. Es gibt keine Garantie. Patroni werden nicht oft gestohlen. Deswegen wurde der Weg, sie zurückzuholen, auch erst dreimal ausprobiert. Bei keinem hat es geklappt." "Wieso?", meine Frage war eigentlich absolut dumm - mir dämmerte nämlich etwas. Doch ich wollte seine Bestätigung. Bevor er mir seine Erwiderung gab, schloss er flackernd die Augen. "Weil sie ihre Albträume nicht überlebt haben, Albus. Sie haben sie in den Wahnsinn getrieben. Alle drei sind gestorben.", seine Worte waren dunkel wie eine eiskalte Gewitternacht. "Aber du bist anders als die.", hielt ich gegen. Er blinzelte. "Was?", er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. "Deine mentale Energie ist die stärkste, die ich kenne.", sagte ich. Daraufhin schüttelte er nur den Kopf. "Es geht bei Albträumen nie um die mentale Stärke, Al-Liebling. Nie." "Um was dann?", ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher, ob ich es wirklich wissen wollte. "Um die Seele. Wenn die Albträume zu stark sind und die Seele zu schwach, 'bricht' sie. Ich muss dir hoffentlich nicht sagen, was das 'Brechen' der Seele bedeutet." "Den Tod.", ergänzte ich leise. "Absolut richtig.", Gellert nickte bestätigend. "Und ich weiß nicht, ob meine Seele diese Stärke hat. Nun, es gibt jedoch einen Weg, das herauszufinden. Auch, wenn ich ihn nur einmal gehen kann." "Nein!", erschrocken riss ich die Augen auf. Als ich ihn ansah, wusste ich, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Denn er hatte seine Entscheidung getroffen; er würde seinen Patronus wiederholen und zuvor... Zuvor würde er seinen schlimmsten, seinen schmerzhaftesten Albtraum wiedersehen. Ohne, dass er es mir sagte, wurde mir klar, um was - oder viel mehr wen - es dabei ging. Gina Grindelwald. Seine Schwester.

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt