69. Kapitel (Albus): Die Schatten der Dunkelheit

101 8 11
                                    

Eine Woche später…

Ich erinnerte mich an den Tag, als ich zum ersten Mal von Nurmengard gehört hatte. Als ich das Bild von Gellerts Schloss zum ersten Mal im Tagespropheten gesehen hatte - das Ministerium hatte einen seiner Akolythen gefangengenommen und seinen Erinnerungen ein Bild Nurmengards entzogen gehabt. Tja. Damals, das war jetzt ungefähr fünfzehn Jahre her, hatte ich beim Anblick des Schlosses vor allem eins gedacht: Kalt. Arrogant. Hasserfüllt.
Wie Gellert es damals gewesen war.
Die Dunkelheit hatte sich immer tiefer in seine Seele gegraben und doch hatte ich immer versucht daran zu glauben, dass er dem Licht noch eine Chance geben würde.
Schon damals, 1899, hatte er das an sich gehabt.
Diese Entschlossenheit.
Diese Dunkelheit.
Aber vor allem diesen einen Charakterzug, der mich bis heute beeindruckte: Ehrgeiz. Ein toxischer, vergifteter Ehrgeiz. Und doch... Diese gewisse Sanftheit. Wenn er mit Ari gesprochen hatte. Sie hatte ihn gern gehabt. Wenn sie mit ihm gesprochen hatte, waren die Schatten ihres Obscurus aus ihren Augen verschwunden.
'Wir werden sie retten, Al.'
Das hatte er zu mir gesagt.
Noch immer meinte ich, seinen warmen Atem zu spüren, seine Stimme flüsternd an meinem Ohr zu hören, als er diese Worte sagte: 'Wir werden sie retten, Al.'
Wir wollten.
Aber wir hatten es nicht getan.
"Die Welt ist wie ein Schloss, Al. Ein Schloss aus Glas.", Gellerts Worte waren leise, gedankenverloren. Wie immer war er so lautlos hinter mich gekommen wie ein Katze auf ihren Samtpfoten. "Ja. Es ist alles so... zerbrechlich.", murmelte ich und wandte mich zu ihm um. Er stand da, die Unterarme auf die Stahlstreben gestützt, die zweifarbigen Augen in die Ferne gerichtet und zu Schlitzen verengt, während er in die Abendsonne blinzelte. "Zerbrechlich.", wiederholte er mit schwerer Stimme. "Ja. Wie sagte ich? Ein Schloss aus Glas. Und ich bin ein Riss darin."
Auf seine Worte hin zog ich die Augenbrauen leicht nach oben. "Wie meinst du das?"
Darauf seufzte er und wandte mir den Kopf zu. Die untergehende Sonne zeichnete Schatten auf sein Gesicht, ebenso wie rot-orangenes Licht. "So, wie ich es sage. Die Welt ist das Glas, ich bin der Riss.", er zog den Elderstab und musterte ihn einige Sekunden lang schweigend bevor er hinzufügte: "Ich bin der Fehler." Ich blinzelte. "Gellert?" Statt einer weiteren Frage legte ich den Kopf schräg und trat an seine Seite. Denn ich wusste, er würde mich auch so verstehen. "Nun", begann er leise "nichts ist perfekt. Unsere Welt auch nicht. Sie ist zerbrechlich, wie aus Glas. Und die Schwarzmagier werfen mit Steinen. Doch zuerst sind sie Risse, die sich verzweigen und größer werden. Was ich damit sagen will: Unsere Welt ist am Zerbrechen, begreifst du das? Wenn sie es nicht wäre, so wärst du jetzt nicht hier sondern in Hogwarts. Ich wäre in Askaban. Unsere Welt ist das Schloss aus Glas, um es herum liegen Steine verschiedener Größe. Wir, die wir außerhalb unseres Schlosses sind, können es theoretisch mit diesen Steinen bewerfen. Die meisten tun es allerdings nicht. Aber ich tat es. Es war ein ziemlich großer Stein, den ich auf unser Schloss aus Glas warf. Er verursachte einen großen Riss. Ich fuhr fort, das Glasschloss unserer Welt mit Steinen zu bewerfen. Mal kleinere, mal größere. Doch dann kamst du und hast mich überzeugt, sie fallen zu lassen. Soweit so gut. Die angeschlagenen Teile hätten ausgetauscht werden können. Wurden sie nicht. Stattdessen kam das Ministerium und warf einen Felsbrocken, der das Glas, das gesamte Schloss, erschütterte und ein ganzes Netz von Rissen und gesplitterten Teilen erschuf. Das Schlimmste ist, dass sie nicht aufhören. Sie lassen es weiterhin Steine hageln und die Risse werden immer mehr."
"Sie zerreißen unsere Welt und sagen, sie würden es tun, um dich, beziehungsweise mich, aufzuhalten. Dabei... tun sie es eigentlich gar nicht deswegen. Sie tun es, oder viel mehr Coral Everdal tut es, und Andrew Wildblade macht mit weil er ihr verfallen ist, weil sie mich hasst. Coral Everdal. Sie hasst mich, weil...", ich zuckte die Schultern. Gellert blinzelte und sah zu Nurmengards Turm, für einen Moment ließ ein seltsames Gefühl seine Augen flackern, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. "Sie hasst dich, weil sie dir die Schuld an Starlings Tod gibt. Es ist im Ministerium nicht bekannt, dass er sich opferte, um einen Dämon zu wecken. Bevor sie starben, verbreiteten seine Auroren die Kunde, du hättest ihn getötet. Oder viel mehr so sehr in den Wahnsinn getrieben, dass er sich selbst getötet hat.", antwortete er. "Na, herrlich.", murmelte ich und schüttelte den Kopf. "Woher du das immer alles weißt, will ich glaub ich gar nicht so genau wissen.", setzte ich hinzu. Er schenkte mir ein bezauberndes, atemberaubendes Lächeln. "Willst du auch nicht.", sagte er zuckersüß. Für einen Moment spiegelte sich wieder eine Spur der alten Dunkelheit in seinen Augen. Ich erinnerte mich daran, was er vor einer Woche zu mir gesagt hatte - dass in seiner Seele immer ein Hauch Finsternis sein würde. Er hatte sie zu lange in die Tiefen seines Seins gelassen, zu lange zu gelassen, dass sie seine Gedanken beherrschte. "Wann hast du die Dunkelheit zum ersten Mal in dir gespürt?", ich sprach die Frage aus, bevor ich darüber nachdenken konnte. Bevor er antwortete, wandte er den Kopf wieder zur untergehenden Sonne, ich sah, wie sich seine Pupillen zu winzigen Punkten verengten. "Eigentlich schon immer. Soweit meine Erinnerungen zurückreichen. Ab dem Moment, da ich begriff, dass meine Eltern mich hassten. Da war ich sieben." Er schwieg und ich hielt die Erklärung für beendet. Doch zu meiner Überraschung fuhr er fort: "Ich war sieben, als ich es begriff. Sieben, als ich die Dunkelheit wie einen Drachen in meiner Seele spürte.", seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. "Ich hatte gerade beim Spielen die Lieblingsvase meiner Mutter zertrümmert. Eine andere Mutter hätte getadelt und es dann gut sein lassen. Meine nicht. Sie schrie mich an und dann...", er schloss die Augen, seine Kiefer verkrampften sich und er warf leicht den Kopf zur Seite. "Hat sie mich geschlagen. Das war das erste Mal, dass ich mich daran erinnern kann. Sie hat mir eine Ohrfeige gegeben. Links. Dann noch eine. Rechts. Wieder links. Wieder rechts. Insgesamt noch vier auf jede Seite. Erst dann war sie fertig, hat mich weggestoßen und mich in den Scherben sitzen lassen. Sie war eine Hexe, eine äußerst mächtige dazu. Sie hätte einfach 'Reparo' benutzen können. Tat sie nicht. Nein.", er blinzelte und musterte wieder den Himmel, der blutrot geworden war. "Und in dem Moment... als ich da saß, in den Scherben und nichts tun konnte, außer mir die Finger aufzuschneiden, als ich versuchte, die Vase wieder zusammenzusetzen... da habe ich es gespürt. Wie ein Monster, das geschlafen hat, hob die Dunkelheit den Kopf und ich konnte nur eins denken: 'Das wirst du bereuen. Dafür wirst du büßen.' Was sie auch getan hat. Sie hat bezahlt. Sie und mein Vater.", er steckte den Elderstab weg und musterte seine Hände, als würde er sie zum ersten Mal sehen. "Siehst du sie?", fragte er leise. Ich folgte seinem Blick und sah, was er meinte.
Hauchdünne, kaum zu erkennbare Narben zogen sich über seine Finger. Alle zehn.
"Waren das... die Splitter?", flüsterte ich.
Er nickte. "Ja. Aber die schlimmsten Narben waren die, die niemand sehen kann."
Mir war klar, von was er sprach. "Sie haben dich fast gebrochen.", sagte ich. "Fast.", bestätigte er. "Bis ich anfing, ihre Sätze umzukehren. Ich zeigte die Sätze meiner Dunkelheit und sie nährte sich daran wie ein schwarzes Feuer, das Schatten verbreitet statt Licht. Kälte statt Hitze. Meine Dunkelheit war mein Feuer, drei Jahre lang. Dann kam Gina und um ihretwillen bezähmte ich meine Finsternis. Aber als sie starb...", er schüttelte sachte den Kopf. "Da war es vorbei. Ich ließ die Seile reißen, mit denen ich meine Kälte bezähmt hatte. Ich ließ meinen Hass meine Seele erfüllen und vergiften. Er verschleierte die Welt, tauchte sie in einen roten Schimmer, in dem die Muggel und alle, die gegen mich waren, nur noch eins waren: Etwas, das gejagt und getötet werden muss. So blutig, langsam und qualvoll wie nur irgendwie möglich. Sie sollten zittern, vor mir am Boden knien, meinen Namen flüstern und mich um Gnade anflehen. Die ich ihnen nicht geben würde. Niemals." Abrupt wandte er mir seine Augen zu. Durch die Tatsache, dass seine Pupillen wegen der Helligkeit der Sonne immer noch winzige Punkte waren, hatte sein Blick etwas unnatürliches. Reglos hielt ich seinem Blick stand. Nach einigen Sekunden nahmen seine Pupillen wieder so etwas wie Normalgröße an. Ein seltsamer Schimmer glänzte in seinen zweifarbigen Augen. "Aber inzwischen ist es nicht mehr so.", ich formulierte es zwar als Aussage, ließ aber dennoch den Hauch einer Frage mitschwingen. Gellert schüttelte den Kopf, ohne seinen Blick von meinem zu lösen. "Nein.", sagte er leise.
Kurz schwieg ich. "Ich bin froh, dass deine Eltern dich nicht brechen konnten.", bekannte ich dann, fast lautlos. Er lächelte, ich konnte nicht sagen, welche Art von Lächeln es war. Freudlos? Bitter? Ironisch? Vielleicht auch etwas ganz anderes. "Ich auch, Al. Ich auch. Denn wenn sie es getan hätten, so hätte ich dich nie getroffen. Und wenn ich dich nie getroffen hätte, so hätte ich niemals diesen Lichtstreifen gesehen, der mir schlussendlich die Kraft gegeben hat, mich von meiner Dunkelheit zu lösen.", erwiderte er ernst. Dann neigte er sich zu mir und küsste mich.
Ich kannte ihn.
Wusste um die Narbe an seiner Kehle, auf seinem Rücken und auf seiner rechten Wange, an seinen Fingern.
Aber ich wusste vor allem um die Narben an seiner Seele.
Genauso, wie er meine kannte.

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt