Epilog

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Ich spürte es. Ich spürte, dass er da war. Ich spürte es wie einen Windhauch, der flüsternd durch die Blätter streicht. Rasch nahm ich die Gestalt meines 18-jährigen Ichs an. Dann lief ich los, in jene Richtung, in die es mich zog wie ein unsichtbarer Magnet.
Was ich schließlich sah, ließ mich meine Schritte verlangsamen.
Einige Meter vor mir ging das Weiß des Reichs der Toten in das Grün einer Wiese und das Blau des Himmels über. Auf der Wiese sah ich ihn, in seiner Gestalt als 16-Jähriger. Er kniete im Gras, Gina saß auf seinem einen Bein. Gellert hatte einen Arm um sie gelegt und sprach offenbar mit ihr. Die Worte waren zu leise, als dass ich sie verstand, doch da war ein verletzlicher Ausdruck auf seinem Gesicht. Zögernd näherte ich mich der Grenze. Wenn ich gleich den entscheidenden Schritt tat und nicht durchkommen würde, hieß das, dass er nicht oder noch nicht mit mir sprechen wollte. Wenn ich hingegen durchkam, war das ein gutes Zeichen. Nachdenklich musterte ich die Wiese. Sie war imaginiert, wie alles im Reich der Toten was nicht weiß war. Wir Tote waren in der Lage, unsere Gestalt zu wechseln, aber nur innerhalb des Alters, das wir zu Lebzeiten erreicht hatten. Mit einem tiefen Atemzug machte ich den letzten entscheidenden Schritt. Angespannt erwartete ich fast, auf eine unsichtbare Mauer zu treffen, die mich fernhielt. Doch nichts geschah, ich kam ohne den Hauch eines Widerstandes auf die Wiese. Immer noch zögernd trat ich näher an Gellert und Gina heran. Seine Schwester wandte den Kopf, sah mich, neigte sich zu Gellert und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er nickte und stand auf. Sie lächelte und hüpfte fröhlich davon. Gellert verharrte und sah ihr nach. Als ihre kleine Gestalt in der Ferne verschwunden war, drehte er sich zu mir um. Die goldenen Locken fielen ihm bis zu den Schultern, seine zweifarbigen Augen waren klar und fokussiert. "Albus.", sagte er leise und senkte den Kopf ein bisschen. Ich schluckte, holte tief Luft, atmete wieder aus und antwortete dann: "Gellert. Du... Du bist hier." "Das bin ich.", er nickte und musterte mich. "Vollkommen. Ich bin tot, werde nie wieder zurückkommen." Darauf erwiderte ich nichts. "Lissa ist auch da. Sie kam kurz nach mir.", berichtete ich. "Das dachte ich mir.", er strich sich eine Locke aus dem Gesicht, sie fiel aber sofort wieder zurück und mich überkam der überwältigende Drang, sie ihm zurückzustreichen. Aber ich tat es nicht. Stattdessen fragte ich: "Hast du... Hast du Tom... angelogen?" "Natürlich.", bestätigte er ruhig. "Ich habe ihm nicht gesagt, wer den Elderstab nach mir hatte. Ich ging sogar so weit, zu behaupten, er wäre nie in meinem Besitz gewesen." "Du hast es für die gute Seite getan. Für das Licht.", stellte ich fest und schob lautlos, nur in meinen Gedanken, hinterher: 'Und nicht für mich.' Jedoch würde ich ihm das keineswegs zum Vorwurf machen. Auf meine Feststellung hin nickte er nur. Einige Sekunden lang schwiegen wir, dann seufzte er. "Was ist eigentlich zwischen uns passiert, dass wir jetzt hier stehen und ich nicht wage, das zu tun, was ich eigentlich zu gerne tun würde?", wollte er dann wissen. Schuldbewusst biss ich mir auf die Lippe. "Es... Ich hab zugelassen, dass du glaubst, Hogwarts wäre mir wichtiger als du.", erwiderte ich flüsternd. "Ich glaube es nicht.", gab er gelassen zurück. "Ich weiß es. Du hast es mir deutlich gemacht und das akzeptiere ich auch." "Gellert, nein!", meine Stimme war schriller als sonst. "Das stimmt nicht! Wirklich! Das musst du mir glauben!" Seine Lippen verzerrten sich zu etwas, das kein Lächeln und kein Grinsen war. "Wo warst du dann, als ich dich gebraucht habe? Wo war wenigstens das Band, als ich es gebraucht habe? In Nurmengard. Wo war es? Wo warst du? In Hogwarts.", er schüttelte den Kopf. "Ich werfe es dir nicht vor. Aber du hättest es mir sagen sollen. Ich weiß, dass du als Schulleiter viel zu tun hattest. Vollkommen verständlich." "Hogwarts war mir nie wichtiger. Nur... Ich hab dich nicht vergessen. Das nicht. Aber...", ich warf die Arme hoch und ließ sie wieder sinken. Der Himmel über der Wiese verdüsterte sich, ein barscher Wind zauste uns die Haare. "Aber was?", hakte Gellert nach. "Ich weiß nicht.", flüsterte ich. "Es kann sein, dass ich... Hogwarts dir vorgezogen habe." Er schnaubte. "Sage ich doch. Nur warum, Al? Warum?" Die Tatsache, dass er 'Al' gesagt hatte, machte mir ein winziges bisschen Hoffnung. "Ich weiß nicht. Wobei nein, das stimmt nicht.", ich seufzte, er legte abwartend den Kopf schräg. "Ich hatte Angst, dass das Ministrium wieder Jagd auf mich macht, wenn ich auffällig oft nach Nurmengard gehe." "Was du von 1945 bis 1955 ja gar nicht gemacht hast.", bemerkte er ironisch. "Tut mir leid, Liebling, aber damit kannst du dich nicht rausreden. Also?" Da war wieder eine Spur Schärfe in seiner Stimme. "Oh Gellert, ich... ich weiß es doch auch nicht! Vielleicht wollte ich mir oder dem Ministerium oder unserer gesamten Welt beweisen, dass ich sehr wohl ohne dich klar komme, dass ich dich nicht brauche.", ich zuckte die Schultern. Ich sah, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten, als er die Zähne zusammenbiss. "Stimmt. Du brauchst mich nicht. Und da ich nun tot bin und der Fluch mir somit nichts mehr anhaben kann, brauche ich dich auch nicht mehr." Damit wandte er mir den Rücken zu. Der Himmel wurde noch dunkler, Donner grollte, ein gezackter Blitz zuckte über den Himmel. Er brauchte mich nicht mehr. Wie Recht er hatte. "Willst du es jetzt so zwischen uns beenden?", meine Frage ging fast im nächsten Donner unter. "Wenn es sein muss.", erwiderte Gellert. Auf einmal drehte er sich wieder zu mir um und sah mich an. "Tell you you're the greatest, but once you turn they hate us. The misery, everybody wants to be my enemy. Spare the sympathy.", er lachte, das Gewitter ließ die Luft erzittern. "Du hast Recht, Al. Du brauchst mich nicht. Und ich brauche dich auch nicht mehr." "Im Ernst? Liebst du mich nicht mehr?", stieß ich hervor. Die gleiche Frage, wie in Nurmengard. Jedes Lachen verschwand von seinen jungen Zügen. "Doch.", antwortete er ernst. "Immer. Mit jeder Zelle meines Körpers, Al. Aber ich kann das nicht." "Ich auch nicht.", flüsterte ich. "Umso besser. Don't take it from me. I could be everything!" Mittlerweile regnete es in Strömen, Gellert grinste, verneigte sich und ging. Seine schlanke Gestalt verschwand mit den gleichen eleganten Bewegungen wie damals. 1899.
1899.
Es war wie ein Eissplitter in meinem Herzen. "Geh ihm nach du Dummkopf!", fauchte jemand. Ich wirbelte herum. Dort stand Gina. Ihre hellblonden Locken trieften vor Nässe. Was das betraf, war sie ihrem Bruder so ähnlich, dass es schmerzte. "Okay.", flüsterte ich und machte mich auf die Socken. Rufen musste ich nicht. Der Sturm, der nun in Kombination mit dem Gewitter wütete, war so gewaltig, dass der Wind meine Worte verschluckte. Also musste ich blind umherirren. Quasi. Denn ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wo er war. Schließlich blieb ich stehen und war froh, dass man im Reich der Toten nicht erfrieren konnte. "Bitte. Gellert. Verzeih mir.", flüsterte ich. "Ich liebe dich! Das weißt du doch!" In meiner Verzweiflung schrie ich die Worte doch heraus. Wie zur Antwort zuckte ein riesiger Blitz über den Himmel. Er hatte die Form des Heiligtümerzeichens.
"Weiß ich.", ertönte seine Stimme hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um. Da stand er, im strömenden Regen. Seine goldenen, schulterlangen Haare waren klitschnass, seine zweifarbigen Augen glänzten. Ich sah den Zorn darin. Die Verletztheit. Die Enttäuschung. Zögernd trat ich zu ihm. Er wich mir nicht aus, blieb nur stehen. "In Nurmengard.", sagte ich leise und musterte ihn. "Du hast gesagt... Du hast mir vorgeworfen, dass ich das Band zu dir nicht geknüpft habe, wenn ich schon nicht kam. Aber... warum hast nicht du einfach das Band zu mir geknüpft?" "Habe ich.", erwiderte er kalt. "Oder ich habe es versucht, um es korrekt zu sagen. Aber die Bindung hat nicht gehalten. Meine Gedanken sind immer von deinen abgerutscht. Das Band fand keinen Halt. Deswegen habe ich dich nicht gerufen." Ich biss mir auf die Lippe und starrte ihn an. Der Regen kam immer noch in Sturzbächen, die Tropfen waren hart wie Hagelkörner, was unter anderem an den heftigen Wind lag. Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel, gefolgt von einem krachenden Donner. "Du wolltest mich nicht hören.", flüsterte er und strich sich mit einer müden Bewegung eine nasse Strähne aus dem Gesicht.
Er hatte Recht, ich hatte ihn nicht hören wollen, hatte ihn vergessen wollen. Aber warum? Das war mir, jetzt im Nachhinein, ein Rätsel. "Ich wollte dich vergessen.", murmelte ich und trat von einem Bein aufs andere. "Nur weiß ich nicht mehr, warum." Gellerts rechte Augenbraue zuckte in die Höhe, Schneeflocken mischten sich unter den Regen. Ein Böe fuhr fauchend über das Gras. "Weißt du nicht mehr?", hakte er nach. "Ehrlich nicht!", versicherte ich ihm. Ein Hauch von Verachtung blitzte in seinen ungleichen Augen auf. "Ich glaube dir.", antwortete er dann. "Aber das heißt nicht, dass ich es verstehe." "Musst du nicht.", ich senkte den Blick. "Ich versteh es auch nicht. Nicht mehr." "Achsooooo.", er zog das Wort in die Länge, ich sah aus dem Augenwinkel, wie er die blonden Locken schüttelte. "Vielleicht war es, weil...", begann ich und verstummte. "Weil was?", fragte Gellert. Langsam sah ich ihn wieder an. "Weil ich... Wie ich grad schon gesagt hab, weil ich wollte, dass du, dass jeder, weiß, dass ich dich nicht brauche." Seine Gesichtszüge verdunkelten sich, doch sein Blick blieb fest auf meinen geheftet. "Schon klar.", seine Antwort war genauso hart wie seine Augen. Wenn er mich jetzt wieder stehen ließ... Nein. Das würde ich nicht ertragen. "Lass mich jetzt nicht noch mal stehen.", flehte ich. "Bitte, Gellert! Nicht noch einmal!" "Keine Sorge.", gab er zurück, während ein weiterer Windstoß Schneeflocken durch die Luft wirbelte. "Das habe ich nicht vor, dessen sei dir sicher." Dann schwieg er und ich wusste, auf was er wartete. Doch noch wollten mir die Worte nicht gehorchen. Also schwieg ich ebenfalls und betrachtete ihn stattdessen. Der Regen hatte uns beide vollkommen durchnässt, sein Oberteil klebte so eng an ihm, dass ich die schwarzen Striche des Heiligtümerzeichens über seinem Herzen erkennen konnte. Er hatte sich das schwarze Symbol selbst eingraviert, direkt auf die Brust, über sein Herz. Um klarzustellen, wie sehr er die Heiligtümer liebte. Sie wollte. Das hatte er mir damals, vor neunundneunzig Jahren, im Sommer 1899, gesagt. Zitternd schlang ich die Arme um mich selbst und seufzte. "Gellert?", fragte ich schließlich leise. "Ja?", er hob den Kopf und sah mich aus dunklen, zweifarbigen Augen an. "Verzeih mir.", fuhr ich genauso leise wie zuvor fort. "Ich weiß nicht mehr, warum ich dich vergessen wollte. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß, dass ich... dass ich es nicht... nicht wieder tun würde. Und ich weiß, dass ich...", ich unterbrach mich und schluckte. "Dass du was?", er legte den Kopf schräg. Kam es mir nur so vor, oder war seine Stimme ein winziges bisschen sanfter als vorhin? "Dass ich dich liebe.", beendete ich meinen Satz und wartete dann auf seine Reaktion. Die Schneeflocken verschwanden, es blitzte nicht mehr, der Wind wurde sanfter. Aber noch blieb der Regen, noch blieben die Wolken finster. Da wurde mir klar, dass keines meiner Worte ausreichen würde. Mit dem Mut der Verzweiflung tat ich das einzige, was mir wirkungsvoll genug erschien: Ich schloss die letzte Lücke zwischen uns, neigte mich zu ihm und presste meine Lippen auf seine.
Schlagartig verebbte der Regen. Die Wolken wurden hellgrau, dann weiß, zerstreuten sich. Die Sonne begann zu scheinen. Dann erwiderte er den Kuss, bevor er sich sanft von mir löste. "Ich vergebe dir.", flüsterte Gellert. "Immer. Ich liebe dich. Egal, was du sagst. Egal, was du tust." "Danke.", hauchte ich. "Du weißt, dass ich dich auch immer liebe. Immer. Egal, was ich sage. Egal, was ich tue." Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. "Ich weiß." Eine Weile lang schwiegen wir, dann sagte ich: "Es ist schon etwas sonderbares. Liebe, nicht wahr? Sie lässt uns teilweise unglaublich dumme Dinge tun. Aber gleichzeitig ist sie trotzdem so, so unbeschreiblich schön, nicht wahr? Für die Person die man liebt, würde man alles machen! Egal wie leichtsinnig oder bescheuert es auch sein mag, egal ob man dabei draufgeht oder nicht! Wenn es der anderen Person gut geht, dann fühlt sich dein eigenes Leben automatisch leichter an, egal was für eine schwere Zeit du gerade durchmachst!" Gellert schnaubte, seine zweifarbigen Augen blitzten. "Ich stimme dir zu.", er senkte das Kinn und strich sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht. "Am Anfang habe ich es gehasst, mich in dich verliebt zu haben. Jetzt nicht mehr." "Ein Glück. Wenn du... es würde mir das Herz brechen.", murmelte ich. Seine Lippen zuckten. "Zum dritten Mal, was?" "Jaaaah.", ich grinste ein bisschen. "Dann sind wir mal beide froh, dass ich dich nicht mehr dafür hasse, dass ich mich in dich verliebt habe.", erwiderte er und zog mich an sich. Ich seufzte, lehnte den Kopf an seine Schulter und fuhr mit dem Finger sanft über das Zeichen der Heiligtümer. Er hielt meine Hand fest und küsste jeden meiner Finger. "Die Liebe ist ein Fluch. Manchmal.", flüsterte er. "Nicht immer.", damit küsste er mich. Es war ein langer, sanfter Kuss, der von einem jahrelangen Verzicht sprach. Schließlich löste Gellert sich von mir. Ohne ein Wort zu sagen sah er mich an und flocht seine Finger zwischen meine. Mehr brauchte ich nicht.
Wir waren frei.
Jetzt und immer.

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt