84. Kapitel (Gellert): Gold-weiß

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6.2.1890
Es war ein Wagnis, das war mir klar. Sogar ein ziemlich großes Wagnis. Denn schließlich hatten meine Eltern mir verboten, einen Zauberstab auch nur zu berühren, bis ich nach Durmstrang kam. Egal. Denn... auch wenn ich erst sieben war, hatte ich mir doch jetzt schon mehrmals den Zauberstab meines Vaters geschnappt und ein bisschen damit Funken verspritzt. Mehr konnte ich auch noch gar nicht. Das würde sich erst ändern, wenn ich in drei Jahren endlich in Durmstrang eingeschult werden würde.
Es war zwar ein Risiko, den Zauberstab meines Vaters zu klauen, aber es war auch einfach. Ich musste nur in sein Arbeitszimmer huschen und zu seinem Schreibtisch gehen. An der rechten Seite lag er. Natürlich spürte ich, dass es nicht mein Zauberstab war, aber... Solange ich keine wirklichen Zauber damit ausführen wollte, ging es vermutlich gut mit uns beiden. Aufpassen tat ich ja schon.
Auf Zehenspitzen, so leise wie ich konnte, darauf achtend, auf keine der knarzenden Ebenholzdielen zu treten, schlich ich los. Als ich am Treppenabsatz ankam, verharrte ich und lauschte. Die Stimmen meiner Eltern drangen zu mir herauf. Meine Mutter lachte, woraufhin mein Vater etwas sagte und ebenfalls lachte. Gut, sie schienen abgelenkt. Denn sie durften mich keinesfalls erwischen. Das hätte wieder eine Strafpredigt inklusive mindestens drei Tage Zimmerarrest zur Folge. So, wie vor vier Wochen, als ich den Versuch gewagt hatte, mich in die Bibliothek unseres Hauses zu schleichen. Meine Mutter, Vylanara, hatte mich erwischt und mir eine halbe Stunde lang eine Ansage gehalten, bevor sie mich in mein Zimmer eskortiert hatte. Tja. Das wollte ich wirklich nicht nochmal erleben. Zugegeben, meine Eltern waren nicht die liebevollsten, die man sich wünschen konnte. Aber... es gab bestimmt auch schlimmere.
Nachdem ich mir versichert hatte, dass meine Eltern so schnell nicht auf den Gedanken kommen würden, ein Stockwerk hoch zu gehen, schlich ich weiter. Unser Haus war wirklich riesig. Und es hatte einen Namen. Es trug den Namen, den meine Mutter früher getragen hatte, bevor sie meinen Vater geheiratet hatte. Vacanović.
Mit leisen Schritten, wie eine Katze, hatte ich mein Ziel erreicht. Oder zumindest eine Vorstufe davon. Denn nun war ich an der Tür angelangt. Wie immer war sie nicht abgeschlossen, ich öffnete sie lautlos und stieß sie gerade soweit auf, dass ich durch den Spalt schlüpfen konnte. Okay. Geschafft. Genauso leise wie zuvor drückte ich die Tür aus Eichenholz wieder ins Schloss und strich mir mit einem lautlosen Seufzen die blonden, schulterlangen Locken aus dem Gesicht. Das war schonmal erledigt. Jetzt... Konzentriert ließ ich meinen verschiedenfarbigen Blick über den Schreibtisch wandern. Unterlagen, Blätter, mit Gold verzierte Federkiele... Da. Halb unter einem Stapel begraben sah ich den mit Silber besetzten Griff des Zauberstabs. Im Stillen triumphierend zog ich ihn hervor. Da war er. 11 ¾ Zoll lang, Kirsche, Drachenherzfaser. Ein mächtiger Zauberstab. Eine mächtige Kombination, das wusste ich aus meinen Büchern.
Meine Eltern hatten mir schon sehr früh Lesen und Schreiben beigebracht. Abgesehen davon waren sie gerade dabei, neben Bulgarisch, Englisch und Deutsch auch noch Französisch in meinen Kopf zu bekommen. Das klappte gut, würde ich mal sagen. Es war gut. C'est bon. Hier, in Bulgarien, schrieben wir mit dem kyrillischen Alphabet, doch kaum hatte ich das gekonnt, hatten meine Eltern das lateinische Alphabet hinterhergeschoben. So kam es, dass ich nun beides sowohl lesen als auch schreiben konnte.
So leise wie möglich schlich ich zurück zur Tür, öffnete sie und huschte am Treppenabsatz vorbei zu einem der Gänge.
Wände aus weißem Marmor, der Boden aus Ebenholz. Selbst jetzt, mit erst sieben Jahren, war mir klar, dass das alles verdammt teuer sein musste.
Als ich im letzten Raum, zu dem der Korridor führte, angelangt war, hob ich den Zauberstab meines Vaters und zog ihn durch die Luft. Orangene, rote und grüne Funken spritzten. Fröhlich grinsend versuchte ich, einige zu erhaschen. Natürlich gelang es mir mal wieder nicht. Erneut ließ ich Funken spritzen und versuchte noch einmal, sie zu fangen.
Doch dabei vergaß ich den Schrank zu meiner Linken, auf dem die Lieblingsvase meiner Mutter stand. Aus weißem Porzellan, verziert mit Gold und Silber. Die Verzierung bildete unser Familienwappen. Ein V und ein G, ineinander verwoben, im Hintergrund die Umrisse von Vacanović. Gerade hatte ich höchst entzückt einen Funken erwischt, da geschah es.
Ganz leicht nur streifte ich die Vase. Sie schwankte und fiel. Blitzschnell wirbelte ich herum, sah aber nur noch, wie sie am Boden auftraf.
Das Splittern des Porzellans auf Ebenholz ging mir durch Mark und Bein. Plötzlich war mir eiskalt. Reglos stand ich da, starrte mit aufgerissenen Augen auf die Splitter hinab. Der Zauberstab entglitt meinen Fingern und fiel zu Boden, landete mitten auf den Splittern, die knirschten. Schwer atmend, als wäre ich weit gerannt, stand ich da.
Schritte.
Ich schluckte.
Denn mir war klar, wer kam.
Meine Mutter, Vylanara Irminjia Grindelwald.
Da war sie auch schon.
Sie stand im Türrahmen, ihre hellblauen Augen loderten vor Zorn und Hass. "Was hast du getan?!", fauchte sie. Blinzelnd hob ich den Kopf und starrte sie ausdruckslos an. Vylanaras Augen verengten sich. "Ist das etwa Narycs Zauberstab?", zischte sie. Darauf gab ich ihr keine Antwort, strich mir nur mit zitternden Fingern eine blonde Strähne hinters Ohr. Warum benutzte sie nicht endlich einen Zauber? Es war doch nur eine Sache von Sekunden! Mit vor Hass verdunkeltem Blick zog meine Mutter ihren eigenen Zauberstab und ließ ihn schnippen. Daraufhin schien der ganze Boden zu schwanken, ich sank auf die Knie. Nun stand meine Mutter vor mir, hob mit einer einzigen Bewegung den Zauberstab meines Vaters auf und starrte verächtlich auf mich hinab. Angespannt biss ich mir auf die Lippe, hob eine handvoll Scherben auf und überlegte, ob ich sie wieder zusammensetzen konnte. Dass ich mir dabei jeden meiner Finger mit hauchdünnen Schnitten überzog, spürte ich kaum.
Klatsch!- ein brennender Schmerz auf meiner linken Wange riss mich aus meinen Gedanken. Erschrocken hob ich den Kopf.
Noch eine Ohrfeige. Dieses Mal rechts.
Dann wieder links.
Noch vier Ohrfeigen auf jeder Seite.
Erst dann ließ meine Mutter die Hand sinken, wandte sich von mir ab, stieß mich von sich und ging.
Doch im Türrahmen blieb sie noch einmal stehen und musterte mich kurz. "Wertlos.", sagte sie kalt und verschwand nun wirklich. Zitternd kauerte ich in den Scherben. Was war das denn gewesen? Meine eigene Mutter hatte mich geschlagen? Obwohl sie das, was ich getan hatte, mit einem einfachen Schnippen ihres Zauberstabs wieder hätte rückgängig machen können? Reparierzauber waren nicht schwer, das wusste ich.
Aber trotzdem hatte sie es vorgezogen, mich zu schlagen.
Die Stellen, an denen sie mich getroffen hatte, brannten wie Feuer.
Warum hatte sie das gemacht? Warum hatte sie mich geschlagen? Ich war ihr Sohn!
Die Erkenntnis, warum sie mich geschlagen hatte, flutete mit einer eiskalten Welle in meine Gedanken.
Sie hasste mich.
Nur weshalb? Hatte ich ihr etwas getan? Ja, ich hatte mich ihrem und Vaters Verbot widersetzt und mit einem Zauberstab gespielt. Aber... das war doch kein Grund, mich zu hassen! Ja, ich hatte ihre Lieblingsvase in Scherben zersplittern lassen. Aber... Sie war eine Hexe! Sie hätte es wieder ungeschehen machen können!
Hatte sie aber nicht.
Nein.
Stattdessen hatte sie mich geschlagen. Ich zögerte, legte mir eine Hand an die Wange. Sie fühlte sich ungewöhnlich heiß an, ich ließ die Hand sinken, als hätte ich mich verbrannt.
Meine Mutter hasste mich.
Und in diesem Moment regte sich etwas in meiner Seele.
Etwas Dunkles.
Etwas Böses.
Wie ein Drache hob es den Kopf, fletschte die Zähne und knurrte.
Ich senkte den Blick auf meine Finger. In Rinnsalen rann das Blut an ihnen hinab.
Ich hob den Kopf, strich mir mit der linken Hand eine blonde, gelockte Haarsträhne aus dem Gesicht und presste die Lippen zusammen. Ein einziger Gedanke war in meinem Kopf. Nur einer.
Das wirst du bereuen! Dafür wirst du büßen!

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt