71. Kapitel (Albus): Gefunden

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Ich hatte es ihm gesagt. Ich hatte zu ihm gesagt, dass er gehen sollte. Ich war irgendwie froh, dass er mir meine Bitte erfüllt hatte und doch wünschte ich mir zeitgleich, er wäre noch da. 
'Geh, Gellert. Lass mich allein. Bitte.'
'Denke nach. Lass dir Zeit und sage mir dann, ob du mir weiterhin vertraust oder nicht.'
Ich hatte das leichte Flackern in seinen Augen gesehen. Wie eine winzige Flamme. Ein ganz leichtes, fast unmerkliches Flackern. Doch welches Gefühl seinen Blick zum Flackern gebracht hatte, konnte ich nicht sagen.
Er hatte gelogen.
Gelogen.
Wie hatte er das tun können? Aber andererseits... wenn er es mir gesagt hätte... Hätte es etwas geändert? Nein. Nichts.
Naja, eigentlich war die Tatsache, dass er damals gelogen und es mir erst jetzt gesagt hatte, momentan mein allerkleinstes Problem. Denn ich hatte ein viel wichtigeres.
Coral Everdal.
Jetzt schickte sie mir sogar Erpresserbriefe! War das nicht illegal? Bestimmt durfte sie sich das als Leiterin der Abteilung für magische Strafverfolgung erlauben. Hin und wieder politische Gegner unter Druck zu setzen. Merlin, aber ich war doch nicht ihr Gegner! Ja, ich war hier, in Nurmengard und hatte mich seit ungefähr einem halben Jahr mit Gellert Grindelwald, dem momentanen Schrecken unserer Welt ausgesprochen. Ja, meine Güte. Aber doch nicht, weil ich auf seiner Seite war. Sondern er auf meiner. Zumindest... hatte ich das geglaubt. Tat er es? Tat er es wirklich, oder hatte er etwa in noch viel mehr Dingen gelogen, beziehungsweise die Wahrheit verschwiegen?
'Denke nach. Lass dir Zeit und sage mir dann, ob du mir weiterhin vertraust oder nicht.'
Vertrauen? Wie sollte ich wissen, ob ich ihm jemals wieder vertrauen konnte? Ob er mir nicht doch noch etwas vorenthielt, was eigentlich von großer Wichtigkeit war. Zum Beispiel eine Vision! So abwegig war das nach der letzten Enthüllung wohl nicht!
Meine Gedanken drehten sich im Kreis, das spürte ich. Vor allem kamen sie immer bei dem selben Thema raus, egal, an was ich dachte: Gellerts Lüge mir gegenüber, die erst jetzt, vierzig Jahre später, zugegeben hatte! Vierzig Jahre!
Was ich ebenfalls feststellte, war, dass meine Gedanken, egal an was ich dachte, immer bei der gleichen Frage hängen blieben: Woher sollte ich wissen, was Gellert mir noch alles verschwiegen hatte? Wie sollte ich ihm je wieder vertrauen?
Das waren zwar genau genommen zwei Fragen, aber egal.
'Verräter. Lügner.'
Diese Worte hatte ich zu ihm gesagt, als Sam gestorben war und Gellert mich festgehalten hatte, um zu verhindern, dass ich die Auroren auf der Stelle umbrachte.
Lügner.
Das passte erstaunlich gut, wurde mir klar.
Lügner.
Blinzelnd schloss ich die Augen und knüpfte meine Gedanken an seine. Ich habe dir vertraut!, stieß ich hervor. Mehr, als sonst jemandem! Mehr als Sam, mehr als meinem Bruder, mehr als Lissa. Und du... sagst mir jetzt erst, dass du vor vierzig Jahren gelogen hast? Bist du so feige? Es waren harte Worte. Aber ich konnte nicht anders. Als Gellert antwortete, war seine Gedankenstimme nur ein Flüstern: Ich weiß. Ich weiß, dass ich gelogen und geschwiegen habe, über Dinge, über die ich nicht hätte lügen und schweigen sollen. Ich weiß es. Es tut mir leid, Albus. Hörst du, es tut mir leid. Ich erwarte nicht, dass du mir vergibst. Denn du weißt, dass ich wieder schweigen würde. Um deinetwillen. Ich habe es dir nicht gesagt. Einerseits, weil der Schmerz um Gina noch zu groß war. Andererseits aber auch, weil ich genau das tun wollte, beziehungsweise getan habe, was ich jetzt auch noch meine erste Priorität nenne; dich zu schützen. Mit allem, was ich habe und mit allem, was ich nicht habe. Dann trennte er unsere Verbindung. Natürlich könnte ich sie sofort wieder aufnehmen, doch... ich tat es nicht. Erstmal musste ich nachdenken. Über das, was er mir gerade gesagt hatte.
'Dich zu schützen. Mit allem, was ich habe und mit allem, was ich nicht habe.'
'Ist dir eigentlich klar, was für ein verfluchtes Glück du hast?! Er ist für dich von den Toten auferstanden!'
'Ich liebe dich, Al. Was immer du auch tust. Was immer du auch sagst.'
Mit einem Seufzen strich ich mir mit allen zehn Fingern durch die Haare. Nein, ich konnte so nicht denken. Erst musste ich Gellert noch eine Sache fragen. Blitzschnell nahm ich unsere Verbindung wieder auf. Gellert? Würdest du es wieder tun?
Würde ich was wieder tun?, seine Gedankenstimme war sicherer, kühler, als zuvor.
Ich zögerte kurz, bevor ich meine Frage beendete: Für mich sterben.
Stille.
Ich konnte seine Atemzüge hören, konnte hören, wie der Elderstab leise klapperte, als Gellert mit ihm spielte, hörte seine Schritte, als er ein bisschen zur Seite trat. Endlich holte er tief Luft und erwiderte: Du kennst die Antwort.
Erneut kappte er die Bindung zwischen unseren Gedanken und verschloss seine, sodass es mir unmöglich war, ihn erneut mit Okklu- oder Legilimentik zu erreichen.
'Du kennst die Antwort.', hatte er gesagt.
Kannte ich sie?
Natürlich.
Natürlich kannte ich seine Antwort.
Immer.
Er würde es wieder tun, jederzeit. Egal, was ich vorher zu ihm gesagt oder was ich getan hatte. Vermutlich könnte ich ihm auch eine verpassen und im entscheidenden Moment würde er dennoch den Todesfluch für mich abfangen.
Trotzdem... Trotzdem wusste ich nicht, ob ich ihm je wieder so vertrauen konnte, wie ich es bis vor ungefähr fünfzehn Minuten noch getan hatte. Und die Tatsache, dass er seine Gedanken vor meinen abschirmte, machte es auch nicht unbedingt besser. Eher das Gegenteil. Aber du hast ihn ja auch weggeschickt!, tadelte meine innere Stimme mich. Stimmt, hatte ich. Leider. Wie sollte ich wissen, ob ich ihm vertrauen konnte, wenn ich nicht den Ausdruck in seinen Augen lesen konnte? Selber schuld., knurrte die Stimme wieder. Jaaaaha. Ich hatte es doch verstanden!
Ehrlich gesagt hatte ich aber dennoch nicht vor, ihn jetzt zu suchen. Zwar wäre das sicher optimal gewesen, bevor aus diesem winzigen Riss zwischen uns wieder ein Graben so groß wie der Grand Canyon wurde (auch wenn wir ihn bereits einmal überwunden hatten), aber ich tat es nicht. Dazu war ich noch zu unentschlossen, musste noch zuviel nachdenken. Sechs Monate. Sechs Monate am Stück hatte ich mich jetzt mit Gellert vertragen. Das war neuer Rekord. Unsere längste gemeinsame Zeit war bis dahin die zwei Monate im Sommer 1899 gewesen.
Waren wir nicht doch zu unterschiedlich?
Der Gedanke kam so plötzlich, dass ich mich selbst darüber erschrak. Bei Merlins Kristallkugel, nein! Waren wir nicht! Aber woher wollte ich das sicher wissen? Wir hatten zwei Monate gehabt und direkt danach war er von dem 'Nichts-kann-uns-je-wieder-trennen'-Status in den 'Wir-sind-Todfeinde-und-ich-werde-dich-töten'-Status gewechselt und das so 'mir-nichts-dir-nichts', als gäbe es nichts einfacheres auf der Welt. Noch während ich darüber nachdachte, hallte auf einmal ein Schrei durch meine Gedanken. So schrecklich, so schmerzerfüllt, so laut, dass mir die Ohren klingelten und ich mir sicher war, dass ich davon noch tagelang Kopfschmerzen haben würde: NEIN!!!
Oh-oh.
Selbstverständlich hatte ich Gellerts Gedankenstimme erkannt. Abgesehen davon gab es ansonsten niemandem, mit dem ich in der Lage war, mich mit Okklu-und Legilimentik zu unterhalten. Sofort reihte ich sämtliche Zweifel, Fragen und sonstige störende Elemente hintenan und versuchte, zu spüren wo er war. Da hatte er es mit seinem schon von Natur aus vorhandenem Gespür natürlich viel leichter, aber ich schaffte es dennoch. Blitzschnell disapparierte ich.
In einem Gang tauchte ich wieder auf.
Was ich dann sah, ließ mich erstmal starr vor Entsetzen verharren.
Er lag auf den weißen Marmorfliesen, den Elderstab ungefähr zehn Zentimeter von ihm entfernt.
Aber das Schlimmste waren die zahlreichen Kratzer, Schnitte und unzähligen Blutlachen um ihn herum.
"Was ist denn hier passiert?!", flüsterte ich und kniete mich neben ihn. Seine Augen fanden mich und er grinste schwach, vollkommen wahnsinnig. "Sie haben...", er rang nach Atem, hustete und Blut tropfte über seine Lippen. "Sie haben uns... gefunden... Albus!", stieß er hervor, ein weiteres, wahnsinniges Grinsen flackerte über sein Gesicht. "Wer?", fragte ich leise. Mit einem Lachen schüttelte er den Kopf, holte bebend Luft und hustete erneut, wieder rann sein Blut. "Das... willst du... nicht... wissen.", hauchte er. "Doch.", widersprach ich. Zum zweiten Mal schüttelte er den Kopf, dieses Mal schwach und ohne Lachen, ohne Wahnsinn. "Sie.", wisperte er erstickt, dann schlossen seine Augen sich flackernd.

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt