64. Kapitel (Gellert): Zwischen den Welten

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Weiß.
Alles war strahlend weiß, die Welt der Lebenden verschwunden in einem weißen Nebel.
Ich hatte gewusst, was ich getan hatte, als ich den Todesfluch für Albus abfing.
Es war nichts, das ich bereute.
Nachdenklich blinzelte ich. Die Auroren waren Stein, Coral Everdal disappariert, im Glauben, ich wäre tot.
Naja, ich war ja auch tot.
Denn vom Todesfluch getroffen zu werden, überlebte nunmal niemand, der nicht den Lebensopferungsschutz trug. Und dessen konnte ich mich nicht rühmen. Denn zum einen hielt diese Schutz nur bis zum 17. Lebensjahr, zum anderen hätte meine Mutter oder sonstwer mir niemals diesen Schutz gegeben. Lieber wäre sie (also meine Mutter) gestorben. Ha, welche Ironie. Lieber sterben, als den Lebensopferungsschutz für ihren Sohn zu wirken.
Sie hatte mich nunmal gehasst.
Aber ich sie genauso. Also konnte ich nicht sagen, dass ich es groß bedauerte - dass sie mich nie geliebt hatte. Meine Eltern hatten mich zur Gefühlskälte erzogen, dazu, dass ich ein Nichts war. Dazu, dass ich wertlos war, dass ich egal war. Hatte ich auf sie gehört? Nein, natürlich nicht. Im Gegenteil. Eigentlich würde ich sogar von mir behaupten, dass ich jeden einzelnen der Sätze, die meine Eltern zu mir gesagt hatten ('Du wertloses Monster!', 'Schande darüber, dass du lebst!', 'Wenn du tot wärst, wäre alles Leiden dieser Welt verschwunden!' und so weiter), ins Gegenteil gedreht hatte. Schließlich kam meine Arroganz, mein Selbstbewusstsein und meine Selbstsicherheit nicht von ungefähr.
Der Hauch einer Anwesenheit streifte mein Gespür wie ein Schmetterlingsflügel.
Eine Anwesenheit, die ich seit Jahren nicht mehr gespürt hatte.
Nein, das konnte gar nicht sein.
Es war unmöglich.
Sie war tot.
Auch wenn ich mir sehnlichst wünschte, es wäre anders.
"Natürlich bin ich tot. Aber trotzdem bin ich jetzt hier. Ich habe dich gespürt, weißt du? Ist ja wohl klar, dass ich es mir nicht habe nehmen lassen, meinen Bruder wiederzusehen."
Ihre Stimme war hell und klar, genauso wie ich sie in Erinnerung hatte.
Ich blinzelte mehrmals und wandte mich dann um.
Da stand sie.
Meine Schwester.
Gina Grindelwald.
Nicht nur ihre Stimme war noch die gleiche, auch sah sie noch immer so aus wie mit fünf Jahren. Doch die Strahlkraft ihrer blauen Augen zeigte, dass inzwischen fast zweiundvierzig Jahre vergangen waren. "Gina.", sagte ich leise. Es fühlte sich mehr als absolut seltsam an, ihren Namen noch einmal auszusprechen. Fast, als würde ich etwas Verbotenes tun - und ich meinte nicht die Unverzeihlichen Flüche. "Absolut. Hier bin ich.", antwortete sie.
Die blonden Locken reichten ihr bis zum Kinn, ihre hellblauen Augen funkelten.
"Bin ich jetzt auch tot? Immerhin hat der Todesfluch mich getroffen.", fragend sah ich sie an. Zu meiner Verwunderung schüttelte meine Schwester den Kopf. "Nein, bist du nicht. Das hier ist nicht das Reich der Toten. Das hier ist die Welt dazwischen. Du stehst zwischen Leben und Tod. Zum einen, weil du der Meister der Heiligtümer bist, zum anderen, weil du das Leben noch nicht komplett losgelassen hast. Naja, und natürlich, weil du freiwillig und wissentlich den Todesfluch auf dich genommen hast. Das spielt auch eine gewisse Rolle, weißt du. Du bist noch nicht wirklich tot."
Oh, Informationsflut! "Woher weißt du das? Ich meine, du bist doch erst-?", ich beendete den Satz nicht.
Gina lachte. "-fünf?", ergänzte sie und schüttelte ihre blonden Locken. "Gellert, ich bin seit mehr als einundvierzig Jahren tot. Glaubst du etwa, in dieser Zeit bekomme ich nichts mit?", sie seufzte und musterte mich. "Ich hab gesehen, was du getan hast.", flüsterte sie.
Ich schluckte hart. "Dass ich was getan habe?"
Bevor sie antwortete, hob sie den Kopf und sah mich unverwandt an, ihre blauen Augen bohrten sich in meine. "Alles. Dass du die Muggel abgeschlachtet hast wie Tiere." Bei dieser schonungslosen Formulierung zuckte ich zusammen. "Sie haben dich umgebracht. Schlimmer als das.", erwiderte ich. "Ja. Aber das waren nur fünf von ihnen. Nicht alle.", Gina legte den Kopf schräg. Als sie fortfuhr, war ihre Stimme sanfter, wieder mehr die, die ich kannte. "Aber ich habe auch gesehen, wie du deinen Hass auf die Muggel hintenangestellt, wie du das Licht zurück in deine Seele gelassen hast."
"Das habe ich.", ich nickte. Meine Schwester blinzelte und sprach weiter: "Ich werde dir jetzt eine Frage stellen, Gellert. Beantworte sie mir ehrlich. Bitte." "Ist gut. Sag.", ich strich mir mit einer Hand durch meine helle Strähne.
"Würdest du es wieder tun? Das ganze Blut vergießen, alleine weil fünf einzelne Muggel mich getötet haben?"
Ohhhh. Das war... kompliziert.
Wieder sah Gina mich an und in den Tiefen ihrer weichen, blauen Augen schimmerte etwas hartes. Wie übermalter Stahl. "Wenn ich jetzt Ja sagen würde, was würdest du tun?", hakte ich nach. "Gehen. Und nie, nie wieder ein Wort mit dir reden, geschweige denn dich auch nur ansehen oder gar zu mir lassen.", sagte sie. Na, super.
"Wenn ich Nein sage, was tust du dann?", ich zog eine Augenbraue leicht nach oben.
Zur Antwort zuckte sie mit den Schultern. "Mich freuen. Weil ich dann wüsste, dass ich meinen Bruder wiederhabe."
Oh. Schon besser.
"Und wenn ich lügen würde, weißt du das, oder?", vergewisserte ich mich. "Ja. Das find ich raus, dessen sei dir bewusst.", gab Gina zurück. Okay. Dann... sollte ich jetzt nachdenken.
Würde ich es nochmal tun?
Das Blut vergießen?
Eigentlich ja.
Denn... es war unfair, so unfair, dass Gina hatte sterben müssen.
Aber andererseits...
Wollte ich wirklich das Zerbrechen in Albus' Augen noch einmal sehen?
Den Schmerz?
Nein. Niemals wieder.
"Nein.", antwortete ich schließlich langsam. "Ich denke nicht. Aber trotzdem! Es war unfair, Gin! Warum du?"
Ihr Blick wurde weich, sie sah mich an, ich kniete mich hin und dann klammerten wir uns aneinander. Gina. Meine Gina. Meine geliebte, unschuldige, kleine Schwester. Endlich hatte ich sie wieder. "Weil es Schicksal war.", flüsterte sie an meinem Ohr. "Es war nie meine Bestimmung, nach Durmstrang oder sonst irgendwo hin zu gehen und Magie zu erlernen. Es war meine Bestimmung, viel zu jung zu sterben und dir den Hass auf die Muggel zu geben."
Eine Weile lang verharrten wir so, doch schließlich machte sie sich von mir los und setzte sich neben mich. "Sind deine Lieblingsblumen immer noch Veilchen, Gin?", fragte ich. Meine Schwester grinste und schüttelte den Kopf. "Nö. Lavendel ist besser.", sie schenkte mir ein schelmisches Lächeln. Ich verdrehte die Augen, denn natürlich verstand ich die Anspielung sofort. "Gin, du bist unmöglich!" "Ich weiß.", erwiderte sie sanft. "Sterben.", sagte ich nachdenklich. "Ist es schlimm?" "Nein. Naja... Es kommt stark drauf an, wie du stirbst. Auf welche Art und Weise. Wenn dich der Todesfluch trifft, geht's natürlich schneller als sonstwas. Aber... wenn du erwürgt wirst... ist es... ziemlich... qualvoll, ehrlich gesagt.", sie blinzelte. "Ja. Das... kann ich mir vorstellen. Es tut mir leid, Gina. Ich hätte... besser aufpassen sollen."
"Oh, Gellert. Hör auf. Du hast damals alles getan, was zu diesem Zeitpunkt in deiner Macht stand. Heute hättest du mich vermutlich retten können. Nur damals nicht. Es ist und war nie deine Schuld, dass ich gestorben bin.", obwohl sie klang, als würde sie es mir zum hundertsten Mal sagen, blickte sie geduldig zu mir.
"Heißt das du...", ich schluckte "hast mir... vergeben?"
Sie schüttelte den Kopf. "Es gibt nichts zu vergeben, Gellert. Nicht in dieser Hinsicht."
"In anderer schon.", ergänzte ich und lächelte bitter. "Wirst du es... mir eines Tages verzeihen, dass ich das Blut deinetwillen vergossen habe?", fuhr ich flüsternd fort. Gina seufzte. "Du hast das Blut der Muggel und der Zauberer nicht meinetwegen vergossen. Gellert, wenn du das sagst, machst du dir etwas vor. Du hast das Blut wegen dem größeren Wohl vergossen. Wegen deinem Hass, deiner Arroganz, deinem Größenwahn, um deinetwillen. Aber ja: Ich werde dir verzeihen. Und wenn du ganz genau weißt, dass du es nie wieder tun wirst - das Blut unschuldiger Muggel und Zauberer zu vergießen - dann kann ich dir vielleicht sogar jetzt verzeihen."
Bei den gewaltigen Heiligtümern des Todes, sie klang so erwachsen! Damals, als sie noch lebte, war sie nicht so gewesen. Vermutlich lag es daran, dass nur ihre Gestalt die einer 5-Jährigen war, ihre Seele aber inzwischen (mindestens) sechsundvierzig.
"Verzeih mir. Bitte, Gin. Du hast mich im Licht festgehalten und... als du weg warst, da... Es war, als würde ich fallen. In eine tiefe, dunkle Schlucht und ich konnte mich nirgendwo festhalten. Bis ich Albus getroffen habe. Da war das Licht wieder da. Kurz. Ungefähr zwei Monate lang. Aber dann ist Ariana beim Drei-Wege-Duell gestorben und... Ich konnte es nicht ertragen, Gina. Ich habe keinen anderen Weg mehr gesehen, als Gewalt. Vergib mir. Bitte.", flehentlich sah ich sie an.
Sie lächelte.
"Ich wusste immer, dass du nicht die Dunkelheit bist, der die Welt dich zu sein sucht, Gellert. Verzweiflung treibt die Menschen zu seltsamen Dingen."
"Tut sie.", sagte ich und zögerte kurz, bevor ich weitersprach. "Bei den Muggeln gibt es Himmel und Hölle. Gibt es das in echt?"
"Nein. Jene Seelen, die nicht würdig sind, verschwinden wieder. Wohin, weiß niemand. Ob sie wiedergeboren werden oder ob sie sich einfach auflösen.", erwiderte Gina.
"Nicht würdig? Das klingt irgendwie unheilvoll.", stellte ich fest. Da lachte sie. Wieder ihr glockenhelles, klares Kinderlachen. "Du bist würdig, solange du noch in der Lage bist, deine Taten zu bereuen. Kannst du es nicht mehr, weil dein Verstand zu zerfressen ist von Gier, Hass, Größenwahn oder irgendetwas in dieser Richtung, bist du unwürdig."
"Ach-so. Gina... Es... Sind... Unsere Eltern...?", ich erstickte fast an den Worten, sie blieben mir im Hals stecken.
Egal, wie hell das Licht in mir brennen würde.
Meine Eltern würde ich immer hassen.
"Nein. Sie sind nicht bei mir, Gellert. Sie sind fort. Sie kamen an, im Reich der Toten. Nur Atemzüge später waren sie fort. Sie waren unwürdig, zu versessen auf ihren Hass. Sie haben dich gehasst. Mich hätten sie später auch gehasst."
"Was? Aber du warst ihr Engel! Sie...", meine Stimme versagte, ich schluckte und setzte erstickt hinzu: "Sie wollten immer nur dich. Nie mich. Ich war ihnen egal."
"Warst du. Aber mich hätten sie auch gehasst. Weil sie gespürt hätten, dass ich an deiner Seite stehe. Nicht an ihrer.", gab Gina sanft zur Antwort. Kurz sah ich sie nur an.
Obwohl sie unserer Mutter wirklich ähnlich sah, war in ihren Augen eine Sanftheit, die den Augen unserer Mutter gefehlt hatte.
Vylanara Irminjia Vacanović.
Später war ihr Nachname Grindelwald. Wie der meine Vaters, Naryc Jasoñ Grindelwald.
Aussehen hatte nichts mit dem Charakter zu tun. Ich seufzte, sah Gina an und flüsterte: "Ich habe dich so vermisst, Gin." "Ich weiß, Gellert und glaub mir, du fehlst mir auch. Aber ich bin ja hier. Ich warte. Und du hast unten ja noch was zu tun. Deshalb habe ich meine Stille auch wieder aus deinen Gedanken gewoben. Lang genug, um dich hierher zubringen. Zu kurz, um dich in das Reich der Toten zu rufen.", sie lächelte wieder. "Vylanara", ich benutzte eigentlich immer die Namen unserer Eltern "hat, nachdem du tot warst, einmal zu mir gesagt: 'Ich wünschte, du wärst gestorben und nicht Gina! Unser süßer, kleiner Engel!' Ich schätze, so etwas nennt man Hass."
"Abgrundtiefen Hass, Gellert. Deshalb waren sie ja auch nicht würdig. Sag ehrlich: Hast du dir manchmal gewünscht, sie würden dich lieben?"
"Klar.", ich nickte zustimmend. "Zumindest am Anfang, als ich noch kleiner war und nicht wirklich verstanden habe, was eigentlich überhaupt los war. Später nicht mehr. Sie hatten die Saat der Verbitterung in meine Seele gesät und die trug schon fleißig Früchte. Sie hassten mich, ich hasste sie. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Mit jedem abwertenden Satz, den die beiden zu mir sagten, nahm ich mir fester vor, sie Lügen zu strafen, ihnen zu zeigen, dass sie meiner nicht würdig waren. Dass ich zu gut war für sie war. Ja. Und dann kamst du und mit dir kam das Licht wieder zurück. Ich war lange zu schwach, um mich gegen diesen Wechsel zu wehren, mein Hass war zu groß, mein Schmerz zu heftig. Aber inzwischen kann ich es. Meine Dunkelheit kontrollieren."
"Ja, ich weiß. Ich hab's gesehen. Wie deine dunkle Seite sich dir untergeordnet hast.", Gina sah mich an und ihr Blick glänzte stolz.
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass meine Taten, mein Hass, meine Arroganz, mein Größenwahn, nichts zwischen uns beiden geändert hatten. Oder zumindest nichts, was irreparabel war. Es konnte wieder heilen.
Als meine Schwester sich erhob, blickte ich zu ihr auf. "Ich gehe, Gellert. Aber sei gewiss: Ich werde warten, solange ich muss."
"Du gehst?", wiederholte ich. "Wohin?"
"Zurück.", sie zeigte in den Nebel, an eine Stelle, an der es leicht golden schimmerte. "Nach Hause."
Nach Hause?
Nach Hause.
Schon klar.
Zurück nach Hause.
Zurück in das Reich der Toten.
"Dann ab mit dir.", sagte ich zärtlich.
Sie grinste. "Hey, ich bin keine fünf mehr!"
"Siehst aber immer noch so aus!", erwiderte ich frech.
"Ja, ja.", sie verdrehte die Augen, immer noch grinsend. Doch da wurde ihre Miene ernst. "Du hast die Wahl, Gellert. Leben oder Tod. Es ist deine Entscheidung. Und nur deine." Dann lief sie los. Mit kleinen, beschwingten Schritten. Das goldene Glitzern wurde stärker, hüllte ihre kleine Gestalt ein und ließ sie verblassen.
Ich blickte noch kurz an die Stelle, an welcher sie zuletzt gestanden hatte. Danach stand ich ebenfalls auf.
Ich wusste genau, was ich zu tun hatte.
Ganz genau.
Nach Hause gehen, hatte Gina gesagt.
Ins Reich der Toten.

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt