88. Kapitel (Gellert): Drei Tage

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1945

Die Jahre waren vergangen. Die Zeit war verblasst. An die Stelle von Coral Everdal war Sean Ivery getreten. Ein vergleichweise vernünftiger Mensch. Zwar sandte auch er seine Auroren nach Albus aus, doch nicht mit dem Ziel, ihn zu töten, sondern ihn zu finden. Na ja, zumindest offiziell. Den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung zogen sowohl Albus und ich als auch Melissa in Zweifel. Darum taten wir genau das, was wir in den Jahren zuvor getan hatten: Wir verschanzten uns in Nurmengard. Mein Schloss, ursprünglich als meine Residenz erbaut, sobald ich die Zauberer an die Spitze geführt hatte. Nun war es ein Zufluchtsort für uns drei. Hätte mir vor zehn Jahren jemand gesagt, dass ich eines Tages mit Albus in Nurmengard stehen würde... Ich hätte gelacht und denjenigen danach getötet. Aber es wäre die Wahrheit gewesen. Um es dazu zu sagen: Wir betrachteten die Glaubwürdigkeit Sean Iverys deshalb so misstrauisch, weil er, seit er vor drei Jahren die Stelle von Coral Everdal - beziehungsweise meiner Mutter - übernommen hatte, den Pakt mit den Dämonen offiziell noch nicht aufgelöst hatte. Zwar war seit drei Jahren kein einziger Dämon mehr an Nurmengards Schutzzaubern gewesen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Also war es besser, vorsichtig zu bleiben. So kam es, dass Sean Ivery seine Auroren durch die Welt scheuchte, sie aber Nurmengard nicht finden konnten. Tja. Was das betraf, hatte er sich selbst einen Stupor-Zauber übergehauen. Denn er hatte alle Auroren, die Coral Everdal bedingungslos ergeben gewesen waren, fristlos entlassen. Das brachte ihm zwar von unserer Seite her einen Sympathiepunkt mehr ein, ihm fehlte aber nun das Wissen darum, wo mein Schloss stand. Gut für uns, schlecht für ihn.

Wie so viele Nächte zuvor nahmen mir meine Träume den Schlaf. Das war nichts besonderes. Ich hatte da immer solche Phasen. Es gab Phasen, in denen ich jede Nacht schlafen konnte und dann gab es welche, in denen ich mehrere Nächte hintereinander nicht schlafen konnte. Es war mir egal, denn ich hatte gelernt, damit umzugehen. Wie sooft sandte der Mond sein kaltes Licht auf Nurmengard hinab. Als ich spürte, dass er kam, stützte ich die Arme auf die Stahlstreben und seufzte. "1945.", sagte ich leise. "Der Mai 1945, um genau zu sein." "Ja. Ich... weiß. Also haben wir ja noch ein bisschen Zeit, uns zu duellieren. Oder es gar nicht zu tun. Wobei mir das Zweite wesentlich lieber wäre.", antwortete er. Darauf lächelte ich bitter. "Denkst du, mir nicht?" Mit einem abgrundtiefen Seufzen trat Albus an meine Seite, ich ließ ihn. "Sagt das Zweite Gesicht was dazu?", fragte er. "Nein.", ich schüttelte den Kopf. "Es hüllt sich in Schweigen was das betrifft. Kommt mir jetzt stattdessen mit Gefängnissen, Voldemort und Todesflüchen." "Super.", murmelte er ironisch. Für einen Moment konnte ich einen Blick auf den Ausdruck in seinen blauen Augen erhaschen. Trauer. Enttäuschung. Er schluckte und drehte den Kopf weg. Sanft legte ich eine Hand an seine Wange. "Nein, Al. Bitte. Sieh mich an." Zur Antwort schüttelte er nur wortlos den Kopf. "Bitte.", wiederholte ich, zog meine Hand zurück und strich mir meine helle Strähne aus der Stirn. Nach kurzem Zögern blickte er mich an, wandte mir wieder den Blick zu. Im blassen Licht der Nacht sah ich die glitzernden Tränenspuren. "Nicht doch.", flüsterte ich und strich ihm zärtlich eine Träne aus dem Gesicht. "Nicht. Nicht weinen. Es wird alles gut." "Wird es nicht.", erwiderte er fast unhörbar. "Wird es nicht, Gellert. Dieses Jahr hier wird nicht ewig dauern. Wir... wir werden uns duellieren und... Das Duell wird uns wieder trennen. Wie kannst du da sagen, das alles gut wird?" "Weil", gab ich zurück und wischte ihm mit großer Zärtlichkeit die neuen Tränen ab "es nicht auf das ankommt, was hier geschehen wird. Sondern auf das, was dann geschieht, wenn unsere Zeit hier vorbei ist. Ich weiß, dass wir noch eine Weile hier bleiben werden. Aber nicht ewig, Al-Liebster. Das würde ich auch gar nicht wollen. Nicht ohne dich an meiner Seite." "Aber das Duell wird passieren! Sam ist gestorben, um uns zu schützen, so viele sind gestorben, weil ich sie in den Kampf gegen deine Akolythen geschickt habe!", protestierte er, ein Zittern schüttelte ihn. "Die seit Jahren von der Bildfläche verschwunden sind. Außerdem wolltest du nie, dass all diese Menschen sterben.", erinnerte ich ihn sanft. "Ja. Aber es ist passiert! Sam ist gestorben, so viele sind gestorben. Wegen mir! Du bist gestorben, mehrmals fast gestorben, warst einmal seelenlos! Wegen mir! Nur weil du der Meinung warst, dich für mich opfern zu müssen. Ich mache dir keinen Vorwurf, Gellert. Ich mache mir einen Vorwurf. Weil ich es zugelassen habe. Dass all diese Dinge passieren.", seine Tränen waren versiegt, doch die Verzweiflung in seinen unglaublich blauen Augen sagte mir mehr, als alle Tränen dieser Welt. Kurz sah ich ihn an, ohne eine Antwort. Was sollte man dazu auch sagen? Doch schließlich hatte ich mich wieder gefangen. "Hör damit auf, Al. Ich flehe dich an, hör auf damit! Du zerreißt dich selbst!", warnte ich ihn. Zur Antwort schüttelte er nur den Kopf. "Und wenn, Gellert?", fragte er rau. "Und wenn? Was ist daran so schlimm?" "Al, hör auf!", wiederholte ich, verringerte den Abstand zwischen uns, bis wir nur noch zwei Zentimeter voneinander getrennt waren. "Du darfst das nicht tun, hörst du? Du darfst dich nicht selbst zerreißen! Es wird dich umbringen!"
"Das wär doch sowieso besser!", der Selbsthass in seinen Worten zerriss mir die Seele. "Nein. Wäre es nicht. Albus! Wäre es nicht. Ich bin nichts ohne dich. Der Fluch kommt zurück, wenn du tot bist. Außerdem würdest du meine Seele mitnehmen, wenn du gehst. Ohne dich habe ich keinen einzigen Grund mehr, noch einen Atemzug auf dieser Welt hier zu tun. Du", ich rückte noch näher an ihn heran und legte eine Hand flach über sein Herz "bist der einzige Grund, warum meine Reue mich nicht zerstört. Du bist der einzige Grund, warum ich mich nicht umgebracht habe, um das Blut zu vergelten, das ich für das größere Wohl vergoss. Begreifst du das?" Mit der zweiten Hand zwang ich ihn, mich anzusehen. "Al.", fuhr ich noch eindringlicher fort. "Begreifst du das?" Schweigend, die Augen geweitet, blickte er mich an und senkte schließlich den Blick auf meine Hand. "Deine Atemzüge sind meine.", flüsterte ich. "Dein Herzschlag ist meiner. Dein Tod ist meiner. Ich bin nichts ohne dich." Noch immer sagte er kein Wort und instinktiv wusste ich, dass keines meiner Worte ausreichen würde, um ihn zu überzeugen. Also neigte ich mich zu ihm, überwand die letzte Distanz und küsste ihn. Wärme stieg in mir auf, als unsere Lippen sich trafen. Ich ließ ihn nicht los, zog mich nicht zurück, auch nicht, als er wie erstarrt verharrte. Keuchend löste ich mich von ihm, nur um ihn noch einmal zu küssen. Immer wieder, so lange, bis sich seine verkrampften Muskeln entspannten und er den Kuss erwiderte. Da erst riss ich mich abrupt von ihm los und holte tief Luft. Erschrocken sah er mich an, ich blinzelte nur. "Ich liebe dich. Mehr, als alles andere auf der Welt. Du bist alles für mich und das weißt du. Ich bin nichts ohne dich, aber du bist alles ohne mich. Das Duell wird uns trennen, Al. Ich werde den Rest meiner Zeit hier sein. Dort oben", ich deutete mit einem Nicken auf das Verlies in Nurmengards Turm "werde ich bleiben. Aber du wirst dennoch nie ohne mich sein. Wenn du mich brauchst, rufe mich. Wenn du mich willst, komm her. Das Ministerium wird dich durchlassen." "Versprichst du mir das? Dass ich nie ohne dich sein werde, wenn ich es nicht will?", fragte er leise und lehnte seine Stirn an meine. "Immer.", hauchte ich und fuhr ihm liebevoll durch die Haare. "Immer, mon amour. Immer, solange ich lebe." "Ich will mich nicht mit dir duellieren müssen, Gellert!", flüsterte Albus erstickt. Vorsichtig wich ich ein bisschen zurück. "Ich auch nicht, Liebling. Ich auch nicht. Aber wir werden es tun, weil es der einzige Weg ist, dir wieder das zurückzugeben, was dir gebührt und mir das, was ich für meine Verbrechen verdient habe." "Red nicht so von dir selbst.", murmelte er. Ich bedachte ihn mit einem kleinen Lächeln. "Aber du darfst so von dir reden?" Er zuckte nur mit den Schultern, ich seufzte. Wir küssten uns erneut, seine Lippen trafen drängend auf meine und ich wusste, dass es nicht unser letzter Kuss vor dem Duell war. Aber einer der letzten. "Warum", fragte er plötzlich "haben wir dem Ministerium eigentlich nicht erzählt, dass sich ein Qilin vor dir verneigt hat?" "Weil sie todsicher gesagt hätten, es wäre ein Inferi.", erwiderte ich. "Wie 1933, vor zwölf Jahren, in Bhutan. Deshalb." "Könntest Recht haben.", gab er mir Recht. Widerstrebend. "Jaaaah, siehst du, Al. Das ist diese Sache. Einmal Schwarzmagier, immer Schwarzmagier. Selbst wenn ich mich um hundertachtzig Grad drehe, was ich ja getan habe, glauben wird mir das niemand. Außer dir und Lissa, versteht sich.", antwortete ich ausdruckslos, ein kaltes Lächeln spielte um meine Mundwinkel. "Das ist ungerecht!", Albus schüttelte den Kopf. Ich war froh, dass er seinen Kampfgeist wiedergefunden hatte. "Ist es. Aber so ist die Welt nunmal. In ihrem Gedächtnis verbleiben hauptsächlich Schwarzmagier und jene, die sie besiegt haben.", ich blinzelte, betont gleichgültig. "Stimmt.", er blickte drein, als würde ihm das überhaupt nicht gefallen. Tat es auch nicht. Aber mir auch nicht. "Liebling, was würdest du eigentlich tun, wenn Sean Ivery dich zu einem Treffen auffordert?", ich legte fragend den Kopf schräg. Darauf zog er die Augenbrauen hoch. "Was ich tun würde? Na ja... Dich und Lissa mitnehmen und hingehen.", sagte er zögernd. "Klingt gut.", ich nickte zufrieden. "Warum fragst du?", wollte er wissen. "Hat dir das Zweite Gesicht was in der Richtung gezeigt?" "Nein, das nicht.", ich schüttelte den Kopf. "Aber... ich habe da so ein... unbestimmtes Gefühl." "Achso. Dann... sollten wir Ausschau halten.", stellte er fest. Ein unbestimmtes Gefühl mochte vielleicht etwas ungenau klingen. Aber sowohl Albus und Lissa als auch ich hatten gelernt, achtsam zu sein, wenn ich irgendeine Ahnung hatte. Sei sie nun bestimmt oder unbestimmt. Zuletzt hatte Lissa die Theorie aufgestellt, dass diese Ahnungen auch eine Form meiner Visionen - und damit des Zweiten Gesichts - waren. Möglich wäre es. "Es wird nicht alles gut werden, ich weiß.", seufzend lehnte Albus sich an meine Schulter. "Aber... sag's mir trotzdem. Sag mir, dass alles gut wird." Sanft legte ich einen Arm um ihn. "Es wird alles gut, Al.", flüsterte ich ihm ins Ohr. "Es wird alles gut. Alles." Dann küsste ich ihn. Ganz kurz, ganz vorsichtig. Er schloss die Augen und als ich mich von ihm zurück zog hauchte er, ohne zu blinzeln: "Nochmal." Es gab nichts, was ich lieber getan hätte.

Only once more || Grindeldore FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt