Kapitel 36

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Mick grinst mich breit an, als er in den Wagen steigt, nachdem er seinen Koffer im Kofferraum verstaut hat. "Wie lange ist es her, dass wir gemeinsam zuhause waren?" Mick zieht mich über die Mittelkonsole hinweg in eine feste Umarmung.
"Weihnachten?" vermute ich und erwidere seine Umarmung lächelnd.
"Okay, wir haben zwei wichtige Themen zu besprechen." kommt mein Bruder gleich zum Punkt, als er sich anschnallt und ich den Wagen auf die Straße lenke. Fragend sehe ich ihn von der Seite an, während ich auf die Autobahn Richtung des kleinen Ortes, in dem wir wohnen, auffahre. Zuerst hält er einen Monolog darüber, wie krass er es findet, dass George vor hat, Carmen einen Antrag zu machen. George hat es ihm in China erzählt, nachdem Lewis, Carlos und ich ja bereits in Monaco eingeweiht wurden.
"Hat er mittlerweile schon einen konkreten Plan?" frage ich neugierig. Mick schüttelt bloß den Kopf.
"Lewis, Liam und ich haben es aber ebenbürtig mit ihm gefeiert. Die Pressekonferenz am Donnerstag hat dann etwas darunter gelitten." erzählt er lachend.
"Aber jetzt zum 2. Punkt auf meiner Liste: Wann wolltest du mir erzählen, dass wir Besuch bekommen?"
"Sorry Mick, als Lando sich selbst eingeladen hat, warst du bereits im Flugzeug, und bisher hast du mich nicht wirklich zu Wort kommen lassen." verteidige ich mich lachend. Als ich ihn frage, was Lando ihm erzählt hat, zeigt er mir nur Landos kurze Nachricht:

»See you on tuesday, bro. 🧡«

Ich finde es schon ein bisschen lustig, dass Lando orange Herzen benutzt. Hat er sich bei mir noch nicht getraut.
"Ich hoffe, es ist okay, wenn wir die anderen denken lassen, dass er dich besucht?" versuche ich gleich mein Anliegen loszuwerden, doch Mick sieht mich nur mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dann prustet er zu meiner Erleichterung aber los.
"Ich dachte ihr datet euch jetzt offiziell?" will er dann wissen.
"Trotzdem wollen wir es nicht an die große Glocke hängen. Ich glaub, das würde nur Druck erzeugen." erkläre ich seufzend. Mick nickt verständnisvoll.
"Alles gut, ihr könnt auf mich zählen."
Ich habe seit Ben niemanden mehr mit nach Hause gebracht, logisch, ich habe ja auch keinen Mann so nah an mich ran gelassen. Ben war nicht nur mein erster und einziger Freund, den ich mit nach Hause brachte, er war auch jahrelang Teil unserer Familie. Und bevor diese wusste, was er mir angetan hatte, hat er ihnen nach unserer Trennung auch sichtlich gefehlt. Grund genug für mich, jetzt vorsichtiger zu sein.

Als wir zuhause ankommen, muss ich noch ein paar Stunden am Laptop arbeiten und ein paar Anrufe erledigen, bevor mein Arbeitstag endet. Mick holt währenddessen ein paar Stunden Schlaf nach, bevor wir uns vor dem Abendessen gemeinsam auf den Weg in die Klinik machen. Dad's Unfall liegt nun schon 10 Jahre zurück.  Die erst beiden Jahre verbrachte er im Krankenhaus. Da er ständig beobachtet werden muss, würden wir jemanden einstellen müssen, würden wir Dad nach Hause holen wollen. Dass Mum das nicht möchte, verstehe ich. Abgesehen von der fremden Person im Haus, ist auch Dad nicht mehr der Alte.
"Der Mann mit dem ich bis dorthin mein Leben geteilt habe, der ist bei uns, aber nicht mehr in diesem Körper." sagte meine Mum mal.
Und auch wenn es mir erst das Herz brach, versteh ich immer besser was sie meinte. Trotzdem besucht sie ihn fast täglich. Ich bin froh, dass ich das seit meinem Auszug nicht mehr machen muss. Aber zugegebenermaßen konnte ich mich auch davor nur schwer dazu überwinden. Trotzdem lassen Mick und ich es uns nicht nehmen, vorbeizuschauen, wann immer wir zuhause sind.
Die Privatklinik ist steril, aber trotzdem einladend, kaum etwas deutet auf eine medizinische Einrichtung hin. Vielmehr wirkt sie wie ein luxuriöses Hotel.
Der erste Anblick, wenn wir das Zimmer betreten, fällt mir am schwersten. Meist muss ich dann nochmal rausgehen, mich nochmal sammeln und es dann erneut versuchen. So ist es auch dieses Mal.
Ich würde gerne sagen, dass Dad aussieht wie früher, nur als würde er schlafen. Und in gewisser Weise tut er das auch. Seine Verletzungen des Sturzes sind alle verheilt und er sieht friedlich aus, als könnte er jeden Moment aufwachen und wieder der Alte sein. Doch er ist alt geworden. Was mir so ungerecht erscheint. Wie kann ein Mann um zehn Jahre altern, ohne einen einzigen Tag davon gelebt zu haben? Mick und ich sitzen zuerst schweigend an seinem Bett, ich halte Dad's Hand. Die Stille ist erdrückend, und mein Bruder muss es genauso empfinden, da er irgendwann zu erzählen beginnt. Von seinem Rennauftakt, seinem neuen Team, dem Moment, als das erste Mal die Lichter ausgingen, seinen ersten Punkten. Bevor Mick davon erzählt, wie schön es ist, mich die meiste Zeit mit dabei zu haben, sieht er mich abwartend an, doch übernimmt dann das Reden, als er merkt, dass ich mit den Tränen zu kämpfen habe. In Gedanken sehe ich aber alles ganz genau vor mir. Wie Mum, Mick und ich in der Box Dad anfeuern. Wie dieser uns durch die Boxengasse trägt, uns in sein Auto sitzen lässt. Und dann Mick, wie er das erste Mal für Haas startet. Als ich das erste Mal die Pit Lane betrete, neben Lando. Noah und ich am Zaun an der Strecke, als mein Bruder das erste Mal Punkte holt.
Als wir nach einer halben Stunde die Klinik wieder verlassen, breche ich am Parkplatz zusammen. Hier in der Schweiz holt mich alles wieder ein. Gerne würde ich sagen, meine Vergangenheit holt mich ein, doch nichts von all dem Schlechten ist vergangen. Das ist die Gegenwart, nach wie vor. Während das Positive, unser perfektes Familienleben und all die Erinnerungen mit unserem Papa der Vergangenheit angehören. So traurig es auch ist, so vertraut ist das Gefühl mittlerweile, diesen Weg von der Klinik nach Hause zu fahren, tränenüberströmt und mit einem dicken Kloß im Hals.

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