Kapitel 13: Unboxing

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"Naja, du weißt schon, Greta und Lina haben ja jetzt schon Leute, mit denen sie hingehen und sonst habe ich nicht so viele Freunde und da dachte ich, dann können wir doch zusammen gehen.", fügte er hinzu.

"Warum nicht? Wenn wir eh beide hingehen, können wir ja auch gemeinsam gehen. Meinetwegen.", um ehrlich zu sein, war es mir wirklich ziemlich gleichgültig, ob ich nun alleine zum Ball ging oder nicht. Ich würde sowieso den ganzen Abend mit Leo und Jonas in einer Ecke verbringen und mich betrinken, weil es die einzigen waren, die sich nie um ein Date kümmerten. Leo behauptete immer, dass es einfach niemandem auf seinem Niveau gab, aber ich glaub er hat einfach nur keinen Bock zu tanzen. Zum Winterball war Jonas letztes Jahr mit einem Mädchen aus der Parallelklasse gegangen, aber auch nur, weil sie ihren Exfreund eifersüchtig machen wollte und er zu nett war, einfach abzulehnen.

"Cool. Freunde?", fragte Jonas gut gelaunt.

"Freunde.", lächelte ich zurück.

"Gute Nacht", sagte ich noch und drehte mich noch einmal zu ihm um, bevor ich schließlich wirklich zurück ins Zelt ging, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.

"Was grinst du eigentlich so blöd?", fragte ich noch halb vorwurfsvoll, halb amüsiert, bevor ich mich endgültig zurück auf ins Bett, oder besser gesagt die Isomatte, machte.

Er zuckte nur die Schultern. Sein Grinsen war noch breiter geworden.

Am nächsten Morgen wachte ich schlecht auf. Ich hatte weder gut, noch lang oder bequem geschlafen. Wenn ich mal eingeschlafen war, dauerte es höchstens eine Stunde, bis ich wieder wach gewesen war.

Dementsprechend bekam ich morgens auch nicht wirklich viel mit. Doch ich war nicht die Einzige, die vollkommen übermüdet war. Auch meine Freunde lebten nur so vor sich hin, weil anscheinend alle nicht besonders tief und lange geschlafen hatten. Genau konnte ich das nicht sagen. Wir hatten ja nicht viel gesprochen.

Am Lagerfeuer, von dem nun nur noch ein Haufen kalter Asche übrig war, aßen wir im Morgengrauen die Brötchen mit Nutella, die Jonas und ich gestern noch im Supermarkt gekauft hatten, und bauten die Zelte ab, bevor wir uns auf den Weg nach Hause machten. Da mein Fahrrad noch immer irgendwo im Nirgendwo komplett schrott am Wegrand lag, musste ich wieder bei Jonas mitfahren, der meinen Anhänger noch an sein Rad angehängt hatte. Doch da ich an diesem Morgen definitiv vor Müdigkeit vom Gepäckträger fallen würde, quetschte ich mich mit allen möglichen Sachen in den Anhänger. Ich hatte wirklich schon bequemer gesessen, denn überall um mich herum waren irgendwelche Taschen und Zeltstangen, die mir fast ins Auge stachen, verteilt. Stören tat es mich aber eher weniger, da ich so furchtbar müde und erschöpft war.

"Mia. Aufwachen, Schlafmütze.", wurde ich von jemandem wach geruckelt.

"Was?", fragte ich noch im Halbschlaf. Ich rieb mir ersteinmal die Augen, um erkennen zu können, wo ich war. Eindeutig vor meinem Haus und immernoch in dem Fahrradanhänger, zusammen mit all möglichem Campingzeugs.

"Da sind wir!", Jonas machte eine einladende Bewegung auf unser Haus zu und strahlte dabei ungefähr genauso sehr wie immer.

Ich befreite mich aus dem aus Zeltstoff, Taschen und Einkaufstüten bestehenden Chaos und musste durch das Wirrwarr heraus klettern, um auf den Bürgersteig zu gelangen. Dort angekommen, streckte ich mich erst einmal ausgiebig, was Jonas wohl ziemlich komisch fand, denn er begann zu lachen. Als ich meinen morgendlichen Stretchübungen dann auch noch ein ausgiebiges Gähnen hinzufügte, konnte er sich garnicht mehr halten. Ich mich aber auch nicht.

"Wo sind die Anderen eigentlich?", fragte ich verwirrt.

"Zuhause. Wir sind noch alle mit zu Tom gefahren und dann alleine weiter nach Hause.", antwortete er mir.

Ich nickte. "Danke, dass du mich gefahren und noch nach Hause gebracht hast.", bedankte ich mich.

"Für dich doch immer, Krüppel", strahlte er.

Lachend haute ich auf seinen Oberarm.

"Ey! Wenn du so weiter machst, muss ich mir meinen Arm bald eingibsen lassen. Was schlägst du auch so hart?!", meckerte er gespielt verletzt, während er sich die geschlagene Stelle rieb.

"Dann hör' du auf, so dummes Zeug zu sagen.", lachte ich.

"Tschüss", rief er mir noch zu, bevor er sich auf sein Fahrrad schwang und davon fuhr.

Kopfschüttelnd drehte ich mich in Richtung Tür und betrat das Haus. "Morgen!", rief ich durch den Flur.

"Guten Morgen.", kam es aus der Küche.

"Na, wie war's?", fragte meine Mutter, die wie immer vor dem Bildschirm saß.

"Gut.", antwortete ich ihr. "Erzähl' ich dir nachher. Erstmal gehe ich nach oben und schlaf noch ein bisschen. Ich bin so müde."

Sie nickte und ich machte mich auf in mein Zimmer. Auf dem Bett lag noch der braune Pappkarton, den ich gestern im Keller entdeckt hatte. Erst jetzt entdeckte ich die Aufschrift auf dem Deckel der Kiste: "Schlechte Erinnerungen, nicht!!!!! öffnen!"

Jetzt war ich erst recht neugierig. Schlechte Erinnerungen? Ich rätselte, wem die Schachtel gehören könnte. Felix? Mama? War sie noch von den vorherigen Besitzern unseres Hauses übrig geblieben? Durfte ich sie überhaupt öffnen? Wahrscheinlich nicht, mir gehörte sie auf jeden Fall nicht. Das konnte ich mit Sicherheit sagen. Ich öffnete sie trotzdem.

Der ehemalige Schuhkarton war voller Papier. So wie ich es sehen konnte, waren es Briefe. Ich wusste, dass es falsch war und sich nicht gehörte sie zu lesen, aber ich tat es trotzdem. Normalerweise war ich garnicht so furchtbar neugierig, doch in den letzten Tagen hatte sich das wohl geändert.

"Liebe Mareike,

Es ist nun schon zwei Wochen her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben und schon vermisse ich dich schrecklich. Deine Augen, dein Lachen, deine Art. Ich vermisse DICH.
Wann werden wir uns wieder sehen können?
Ich weiß, dass du momentan viel um die Ohren hast, wegen deines Studiums, aber ich muss dir etwas erzählen. Etwas Schönes. Ich möchte es dir lieber persönlich sagen, als es aufzuschreiben. Deine Reaktion will ich sehen. Weißt du, du bekommst immer dieses Strahlen in den Augen, wenn du dich ehrlich freust und dann verziehen sich deine Lippen automatisch zu einem Lächeln. Manchmal wünschte ich mir, man könnte überall Spiegel aufhängen, damit du sehen kannst, wie wunderschön du bist.
Ich liebe dich, Mareike.
Dein George"

Geschockt ließ ich den Zettel fallen. Welcher George? Mein Vater George oder unser Nachbar George? Auch wenn mir die erste Möglichkeit wesentlich wahrscheinlicher zu sein schien, denn unser Nachbar George war ein 70 Jahre alter Mann, der seit 50 Jahren oder so mit seiner Frau Mary verheiratet war. Die beiden kamen aus England und waren vor Ewigkeiten in unsere Straße gezogen. Sie wohnten sogar schon länger hier als wir und als Felix und ich kleiner waren, haben sie oft auf uns aufgepasst, wenn Mama keine Zeit hatte.

Was sollte ich nun sagen? Wenn diese ganze Box voller Liebesbriefe meines Vaters an meine Mutter waren, wusste ich, dass ich sie nicht lesen durfte und mir auch nicht sicher war, ob ich sie überhaupt lesen wollen würde. Wahrscheinlich nicht. Er ist ein Arschloch. Dementsprechend hatte ich wenig Lust, mich damit zu beschäftigen.

Aber vielleicht, für alle Fälle, falls mich die Neugier mal wie im Flug überfiel, versteckte ich den Schuhkarton unter meinem Bett. Man konnte ja nie wissen.

Der letzte SommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt